Institute befürchten schwere Rezession bei Gaslieferstopp

– von Klaus Lauer und Rene Wagner und Reinhard Becker

Berlin (Reuters) – Die führenden Institute warnen vor einer konjunkturellen Talfahrt und der höchsten Inflation seit Bestehen der Bundesrepublik im Falle eines russischen Energieembargos.

“Bei einem Stopp der Gaslieferungen droht der deutschen Wirtschaft eine scharfe Rezession”, warnte der Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, am Mittwoch. Dann dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im laufenden Jahr nur um 1,9 Prozent zulegen und 2023 sogar um 2,2 Prozent schrumpfen. Bei normaler Energieversorgung werde das BIP 2022 um 2,7 Prozent und nächstes Jahr um 3,1 Prozent steigen, heißt es im Frühjahrsgutachten “Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress” für die Bundesregierung.

Im Oktober hatten die Ökonominnen und Ökonomen der Wirtschaft noch zugetraut, 2022 die Corona-Krise mit 4,8 Prozent Wachstum abzuschütteln. Doch der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat alle Prognosen über den Haufen geworfen. Die Folge: Teure Energie, hohe Inflation, knappe Rohstoffe, Lieferengpässe. “Ostern steht vor der Tür, aber aus konjunktureller Sicht gibt es im Vergleich zur Herbstprognose kaum frohe Botschaften zu verkünden”, sagte Kooths. “Die deutsche Konjunktur steuert durch schwieriges Fahrwasser.” Denn der Krieg und die Sanktionen des Westens gegen Russland verursachten zusätzlichen Stress für die Lieferketten der Industrie. “Die erhöhte Unsicherheit ist generell Gift für die Konjunktur.” Dies erschwere Investitionsentscheidungen.

Sollten die Energielieferungen abrupt ausfallen, würden in diesem und nächstem Jahr 220 Milliarden Euro an Wirtschaftskraft verloren gehen. “Wirtschaftspolitisch käme es dann darauf an, marktfähige Produktionsstrukturen zu stützen, ohne den Strukturwandel aufzuhalten”, erklärten die Forscher. Hilfen für Privathaushalte zum Abfedern hoher Energiepreise sollten nur sehr zielgerichtet dosiert werden. Der Staat dürfe keine zusätzliche Kaufkraft in die Breite der Bevölkerung pumpen, warnte Kooths. Denn dies würde die Inflation weiter anfachen und so einkommensschwache Haushalte treffen. Wegen der Virus-Pandemie hätten die Deutschen bereits rund 200 Milliarden Euro auf die hohe Kante gelegt und somit genug Finanzpolster.

Für die Verbraucher haben die Ökonomen kaum gute Nachrichten parat. Demnach werden die Preise 2022 mit durchschnittlich 6,1 Prozent so stark anziehen wie seit 40 Jahren nicht mehr. “Im Falle eines Lieferstopps für russische Energie würden sogar 7,3 Prozent erreicht, der höchste Wert seit Bestehen der Bundesrepublik”, so die Prognose. Auch die Regierung rechnet vorerst mit hoher Inflation. “Der russische Angriffskrieg in der Ukraine birgt substanzielle Risiken für die deutsche Konjunktur”, erklärte das Wirtschaftsministerium.

ENDE DER NEGATIVZINSEN IN SICHT

Zudem könnte ein verlängerter Lockdown in China, etwa in der Wirtschaftsmetropole Shanghai, die deutsche Wirtschaft bremsen. “Die Gefahr ist groß”, sagte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser mit Blick auf Lieferketten.

Die Institute sehen die Europäische Zentralbank (EZB) vor der Ratsitzung am Donnerstag im Zielkonflikt: Die hohe Inflation erfordere eigentlich höhere Zinsen, während die durch den Krieg schwächelnde Wirtschaft eine eher stimulierende Politik nahelegen würde. “Die Zentralbank muss nun eine Abwägung treffen, welche dieser beiden Aspekte in der gegenwärtigen Lage wichtiger ist”, sagte der Vizepräsident des IWH Halle, Oliver Holtemöller. Da die EZB seit Jahren eine sehr lockere Linie fahre, sei der Spielraum für neue stimulierende Maßnahmen aber sehr begrenzt. Es spreche daher sehr viel dafür, dass die EZB sich auf einen geldpolitischen “Normalisierungspfad” begebe. Mit einer Erhöhung der Leitzinsen im Euro-Raum sei im September oder im vierten Quartal zu rechnen. Die Institute erwarten, dass der Einlagesatz – ein Strafzins für das Horten von Geld bei der EZB – mit dem ersten Zinsschritt zeitgleich um 0,5 Prozentpunkte auf null gehievt wird. “Somit wird noch für das laufende Jahr ein Ende der negativen Notenbankzinsen erwartet.”

Die Gemeinschaftsdiagnose der Institute dient der Bundesregierung als Basis für eigene Projektionen, die wiederum die Grundlage für die Steuerschätzung bilden. Erarbeitet wurde das Gutachten federführend vom RWI in Essen, vom DIW in Berlin, vom Ifo in München, vom IfW in Kiel und vom IWH in Halle.

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