Baerbock im Baltikum und das “Thema an Küchentischen”

(Berichtigt im dritten Satz des ersten Absatzes: lettische Hauptstadt Riga (nicht estnische)

– von Alexander Ratz

Riga/Tallinn (Reuters) – Bei ihren Besuchen im Ausland blickt Annalena Baerbock nicht nur auf das Hier und Jetzt und auch nicht nur auf das Morgen der Weltpolitik.

Die deutsche Außenministerin bemüht vielmehr gerne die Vergangenheit ihrer jeweiligen Gastgeber und sucht das Gespräch mit den “normalen” Menschen, um daraus Schlüsse für das Handeln in der Zukunft zu ziehen. Deutschland habe vielleicht nicht so genau hingehört, welche Gespräche es in den baltischen Staaten in den vergangenen Jahren, vor allem seit 2014 gegeben habe, sagt sie in der lettischen Hauptstadt Riga. Sie meint: Die Gespräche über Russland und die Angst, die die Balten immer noch und zunehmend vor dem Riesennachbarn haben.

“Für die Menschen hier in Lettland, in Litauen und Estland war diese Bedrohung immer schon in den Köpfen, war diese Frage vielleicht auch immer schon Thema an Küchentischen”, sagt Baerbock bei einer Pressekonferenz mit ihren baltischen Amtskollegen, wie immer bemüht, die große Politik herunterzubrechen auf den Alltag der Menschen. Sie sei hier, “um mich in Eure Haut zu versetzen und die Gespräche, die seit Jahren bereits im Baltikum geführt werden, ein bisschen nachempfinden zu können”. Das Jahr 2014 ist hier einschneidend. und damals schon stand die Ukraine im Mittelpunkt. Nach den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan in Kiew ließ Russlands Präsident Wladimir Putin kurzerhand die Halbinsel Krim annektieren, prorussische Separatisten übernahmen die Kontrolle in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk.

Dies schürte Ängste, Estland, Lettland und Litauen könnten die nächsten sein. Zwar sind die drei baltischen Republiken seit 2004 Mitglied der Nato und der Europäischen Union und kommen somit in den Genuss der sogenannten Beistandspflicht. Aber die Jahrzehnte der Unterdrückung zunächst durch Nazi-Deutschland und dann die Sowjetunion haben tiefe Spuren hinterlassen. Kein Wunder also, dass Estland, Lettland und Litauen zu den größten Unterstützern der Ukraine gehören, und zu den schärfsten Gegnern Russlands.

Hinzu kommt der große Anteil an russischstämmigen Menschen im Baltikum: In Lettland sind es rund 30 Prozent, in Estland 25 Prozent und in Litauen immerhin noch rund fünf Prozent. Das sorgt für Befürchtungen, Russland könnte hier einen ähnlichen Weg einschlagen wie in der Ukraine. Versuche russischer Desinformation sind bereits evident. Beobachter erzählen, dass die russischen Minderheiten im Baltikum eher auf russische Medien vertrauen, um sich zu informieren. Auch für diese Gefahr findet Baerbock in Riga deutliche Worte. “Putins Hass und Propaganda setzen wir Wahrheit und Transparenz entgegen”, sagt sie. Deutschland wolle von den Erfahrungen der baltischen Staaten lernen, “um russischer Propaganda den Boden zu entziehen”. Und hier sei für sie besonders wichtig: “Dafür braucht es keine Gegenpropaganda, sondern starke, unabhängige Medien und ein kritisches Publikum”, sagt Baerbock. “So bestehen offene Gesellschaften gegen Putins Informationskrieg.”

“ES GEHT UM DIE FREIHEIT JEDES EINZELNEN MENSCHEN”

Strategisch kommt ein weiterer Punkt hinzu, der die Menschen im Baltikum beunruhigt. Litauen grenzt als südlichste der Republiken an die russische Exklave Kaliningrad. Hier befindet sich auch die sogenannte Suwalki-Lücke, die als Achillesferse der Nato gilt. Litauen und damit das gesamte Baltikum sind lediglich durch einem 65 Kilometer breiten Korridor mit dem Nato-Staat Polen verbunden. Westlich davon liegt Kaliningrad, östlich der russische Verbündete Belarus.

“Mit Sorge schauen die Menschen hier in dieser Region zum Teil über die grüne Grenze nach Belarus und nach Russland”, sagt Baerbock. “Wir sehen zugleich, dass die Menschen aber eben nicht im Baltikum in einer Schockstarre verharren, sondern sie sind entschlossen zu handeln, und zwar gemeinsam.” Ein Beispiel dafür ist die Energiepolitik. Während die Bundesregierung bei der Einfuhr vor allem von russischem Gas noch zögert, schaffen die Balten Fakten. Litauen hat die Importe bereits eingestellt, Lettland und Estland wollen dies bis Jahresende tun. Baerbock weiß das. Sie verteidigt die Linie Deutschlands, gleichwohl ruft sie ihren Gastgebern zu: “Den Menschen hier im Baltikum möchte ich klar und deutlich sagen, wir hören Euch, wir sehen Euch, und Deutschland steht an Eurer Seite.”

Baerbocks Ansatz ist Teil ihrer angekündigten feministischen Außenpolitik, die auch maßgeblich die neue Sicherheitsstrategie der Bundesregierung prägen soll. Dass es in ihrer Außenpolitik nicht nur um die Interessen von Staaten geht, sondern letztlich um die jedes einzelnen Menschen, macht Baerbock immer wieder deutlich. Außenpolitik bedeute für sie eben nicht nur, “dass wir einen Austausch zwischen Hauptstädten, zwischen Ministern und Ministerinnen haben, sondern zwischen Menschen”, sagte sie unlängst beim Startschuss zur Entwicklung einer neuen Sicherheitsstrategie für Deutschland. “Denn es geht um menschliche Sicherheit. Es geht um die Freiheit jedes einzelnen Menschen – bei uns und weltweit.”

(Redigiert von Hans Seidenstücker; Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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