Brüssel stutzt Wachstumsprognose drastisch und befürchtet mehr Inflation

Brüssel/Berlin (Reuters) – Wegen des Ukraine-Krieges stutzt die EU-Kommission ihre Wachstumsprognose drastisch zusammen und warnt vor anhaltend hoher Inflation.

Ob gar eine Stagflation – also maue Konjunktur bei hoher Teuerung – droht, ließ EU-Kommissar Paolo Gentiloni am Montag offen. Er halte nicht viel von dem Schlagwort: “Doch in der Tat haben wir eine sehr hohe Inflation und ziemlich niedriges Wachstum”, räumte der Wirtschafts- und Währungskommissar bei der Vorstellung der Frühjahrsprognose ein.

Die EU-Kommission erwartet für 2022 im Euroraum nur noch ein Plus von 2,7 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Februar hatte sie wenige Wochen vor dem russischen Einmarsch noch einen Zuwachs von 4,0 Prozent auf dem Zettel. Zugleich rechnet sie für 2022 mit einer Teuerungsrate von 6,1 Prozent. Die Inflation würde somit weit über dem Zielwert der EZB von 2,0 Prozent landen – und dies auch 2023 mit prognostizierten 2,7 Prozent.

Die russische Invasion laste auf der wirtschaftlichen Erholung Europas, sagte Gentiloni. Die deutsche Wirtschaft könnte laut der Brüsseler Prognose im zweiten Quartal sogar leicht schrumpfen. Im dritten Quartal dürfte sie dann wieder in die Wachstumsspur zurückkehren. Ihre Vorhersage für das deutsche BIP-Plus im Gesamtjahr 2022 dampfte die Kommission zugleich von 3,6 auf 1,6 Prozent ein. Für 2023 erwartet sie nur noch einen Zuwachs von 2,4 (Februar: 2,6) Prozent.

Bei der Inflation rechnet die Brüsseler Behörde für Deutschland in diesem Jahr mit einer Rate von 6,5 Prozent, die 2023 auf 3,1 Prozent zurückgehen soll. Der Ukraine-Konflikt habe die Energiepreise weiter nach oben getrieben und Lieferkettenprobleme verschärft, sagte Gentiloni mit Blick auf die Preisentwicklung im gesamten Euroraum. Die Inflation dürfte damit länger hoch bleiben, betonte der Italiener.

WIE GEHT ES WEITER MIT EU-SCHULDENREGELN?

Trotz staatlicher Kosten in Folge des Ukraine-Kriegs lässt die Verschuldung in der Euro-Zone nach Einschätzung Brüssels allerdings nach. Das Staatsdefizit im gesamten Währungsraum dürfte 2022 weiter auf 3,7 Prozent sinken und im nächsten Jahr auf 2,5 Prozent zurückgehen. Im ersten Coronajahr 2020 war das Staatsdefizit wegen der Finanzhilfen rund um die Virus-Pandemie noch massiv auf gut sieben Prozent gesprungen und dann 2021 auf 5,1 Prozent gesunken. Ein starker Arbeitsmarkt und das Hochfahren der Wirtschaft nach der Corona-Krise sollten die Volkswirtschaften unterstützen “und dazu beitragen, die Staatsverschuldung und die Defizite zu senken”, erklärte Gentiloni.

Die Euro-Länder haben zum Teil verschiedene Pakete geschnürt, um Firmen und Verbraucher seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine von den stark gestiegenen Energiepreisen zu entlasten. Zudem treiben Hilfen für Geflüchtete aus der Ukraine die Staatsausgaben nach oben. Die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftskraft dürften laut Prognose im Euro-Raum im laufenden Jahr auf knapp 95 Prozent sinken und 2023 auf fast 93 Prozent fallen. Das wäre aber noch über dem Niveau vor der Pandemie-Krise. Diese sogenannte Schuldenstandsquote hatte 2020 den Rekordwert von 99,2 Prozent erreicht und war 2021 nur leicht auf gut 97 Prozent gesunken.

Die EU-Schuldenregeln wurden 2020 ausgesetzt, um den Ländern mehr Spielraum zu geben, die Folgen der Pandemie abzufedern. Sie sehen eigentlich vor, dass die Neuverschuldung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt wird und die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent. Ob die Regeln auch 2023 ausgesetzt bleiben sollten oder nicht, ließ Gentiloni offen. Die EU-Kommission werde ihren Vorschlag hierzu nächste Woche präsentieren.

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