Bahn schlägt Alarm und kassiert Pünktlichkeitsziel

Berlin (Reuters) – Wegen ihres maroden Schienennetzes ist die Deutsche Bahn mit den steigenden Passagier- und Frachtzahlen überfordert und bereitet die Kunden auf Verspätungen und Ausfälle vor. Die wachsende Nachfrage treffe auf einen Rückstau bei den nötigen Investitionen ins Netz, warnte Bahnchef Richard Lutz am Montag in Berlin. “Wir haben ein kurzfristig kaum auflösbares Dilemma: gleichzeitig wachsen und modernisieren.” Die Betriebslage sei kritisch, die Verspätungen nähmen zu, es gebe eine Rekordzahl an Baustellen. Der Modernisierungsbedarf werde aber weiter steigen. “Es braucht ein grundsätzliches, ein radikales Umsteuern. Ein weiter so ist definitiv keine Alternative.” Das Pünktlichkeitsziel von 80 Prozent im Fernverkehr werde man verfehlen und “signifikant davon weg sein”. Im April waren fast ein Drittel der Züge unpünktlich.

Das Eingeständnis kommt kurz nachdem der langjährige Infrastruktur-Vorstand und Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla den Konzern verlassen hat. Für die Bundesregierung kommt es zur Unzeit: Bei den Klimaschutz-Zielen bis 2030 im Verkehr spielt die Bahn eine erhebliche Rolle. Die Passagierzahlen sollen sich bis dann verdoppeln, der Anteil der Bahn am Frachtverkehr deutlich steigen. Zudem steht der Regionalverkehr schon ab Juni vor einer neuen Herausforderung: Das Neun-Euro-Monatsticket wird Millionen zusätzlicher Kunden ab Juni in die Züge locken. Allein der Staatskonzern hat in der letzten Woche 2,7 Millionen dieser Fahrkarten verkauft.

Passagiere und Fracht kämen nach der Corona-Flaute schneller wieder als erwartet, sagte Lutz. Bis zum Sommer wolle mit dem Bund nun ein Konzept erstellen, dessen Kern die vorrangige und grundlegende Sanierung der zentralen Trassen sei. Diese werde ab 2024 beginnen. Dabei sollen alle Bauprojekte der kommenden Jahre gebündelt werden – auch auf Kosten längerer Sperrungen. Wegen der zuletzt vom Bund deutlich erhöhten Mittel für das Netz sei Geld nicht das Problem.

Lutz räumte ein, dass nun in Einzelfällen Fracht während der Sanierungen auch auf die Straße verlagert werden müsste. Dennoch stünde der Strategiewechsel im Einklang mit dem Klimaschutz, da die wichtigsten Korridore Ende der 20er Jahre nachhaltig instand gesetzt sein sollten.

Zur Neueinschätzung der Lage sei man erst im vergangenen Herbst gekommen, sagte Lutz, als besonders Unternehmen über Unpünktlichkeit der Güterzüge klagten. Der Verband der Bahn-Konkurrenten, Mofair, nannte Lutz Analyse richtig. Das Thema sei aber nicht neu. Offenbar wolle der Bahnchef von der Debatte über die künftige Organisation der Netz-Tochter ablenken. Die Bahn-Konkurrenten fordern seit langem eine stärkere Unabhängigkeit des Netzes vom Konzern – auch um eine Benachteiligung etwa bei Gebühren und bei der Vergabe von Trassen zu verhindern. Mehr als die Hälfte des Güterverkehrs in Deutschland wickeln inzwischen Konkurrenzfirmen der Bahn ab.

(Bericht von: Markus Wacket, redigiert von Olaf Brenner. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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