Ultimatum in Sjewjerodonezk abgelaufen – Ukrainer bleiben

– von Pavel Polityuk

Kiew (Reuters) – Nach wochenlangen Kämpfen um Sjewjerodonezk ist ein russisches Ultimatum für die in einem Chemiewerk der ostukrainischen Stadt verschanzten Soldaten abgelaufen.

Bis zum Mittwochvormittag gab es keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine einlenken würde. Die russische Regierung hatte den ukrainischen Truppen eine Frist bis 08.00 Uhr Moskauer Zeit (07.00 MESZ) gegen, um zu kapitulieren. Britische Geheimdienstinformationen untermauerten die Darstellung der ukrainischen Behörden, dass in den Bunkern des Asot-Chemiewerks auch Hunderte Zivilisten ausharren. Russland hatte versprochen, dass sie das Werk sicher verlassen könnten.

Die ukrainischen Behörden versuchten weiter, eine Evakuierung von Sjewjerodonezk zu ermöglichen. Nach der Zerstörung der letzten strategisch wichtigen Brücke zieht sich der Belagerungsring um die Stadt, die ursprünglich gut 100.000 Einwohner hatte, aber immer enger. Pro-russische Separatisten aus der selbst ernannten und international nicht anerkannten Volksrepublik Luhansk warfen der Ukraine vor, sie habe einen humanitären Korridor aus dem Asot-Chemiewerk gestört. Nach Angaben des Gouverneurs der ostukrainischen Region Luhansk, Serhij Haidai, befanden sich zuletzt rund 500 Zivilisten auf dem Werksgelände. Es ist die letzte Bastion der ukrainischen Soldaten in der seit Wochen erbittert umkämpften Stadt.

Das britische Verteidigungsministerium teilte mit, Geheimdienstinformationen zufolge kontrollierten russische Kräfte inzwischen den überwiegenden Teil der Stadt. “Wir müssen durchhalten”, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstagabend. “Je mehr Verluste der Feind hinnehmen muss, desto weniger Kraft wird er für seine Aggressionen haben.” Die Ukraine fordert vom Westen immer nachdrücklicher Waffenlieferungen, was am Mittwoch auch Thema beim Verteidigungsministertreffen der Nato in Brüssel war.

MACRON SAGT WEITERE HILFE ZU

Vor Beginn der Gespräche sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Alliierten würden der Ukraine weiterhin schwere Waffen und Langstreckensysteme liefern. Er erwarte, dass auf dem Nato-Gipfel am 29. und 30. Juni in Madrid ein neues Hilfspaket für die Ukraine vereinbart werde. “Wir konzentrieren uns sehr darauf, die Unterstützung zu verstärken”, sagte Stoltenberg. Das Hilfspaket solle der Ukraine den Übergang von Waffen sowjetisches Stils hin zu westlichen Waffen ermöglichen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte der Ukraine kurz vor einer möglichen Reise nach Kiew andauernde Unterstützung zu. “Wir werden alles tun, um Russlands Kriegskräfte zu stoppen, den Ukrainern und ihrer Armee zu helfen und die Verhandlungen fortzusetzen”, sagte er vor Nato-Soldaten auf einem Militärstützpunkt in Rumänien. “Auf absehbare Zeit werden wir schützen, abschrecken und präsent sein müssen”, fügte er mit Blick auf die verstärkte militärische Präsenz der Nato in den östlichen Staaten des Bündnisses hinzu. Medienberichten zufolge wollen Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz und Italiens Regierungschef Mario Draghi am Donnerstag in die ukrainische Hauptstadt reisen.

LAGE BEI NAHRUNGSMITTELN BLEIBT KRITISCH

Der rumänische Präsident Klaus Iohannis wirbt dafür, dass die Ukraine rasch den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhält. Das sei die richtige Entscheidung, sagte er nach einem Gespräch mit Macron. “Meiner Meinung nach muss der Kandidatenstatus so schnell wie möglich verliehen werden, es ist aus moralischer, wirtschaftlicher und sicherheitstechnischer Sicht eine richtige Lösung.” Erwartet wird, dass die EU-Kommission noch in dieser Woche einen Vorschlag vorlegt. Entschieden über einen Status als Beitrittskandidat werden soll dann auf dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni in Brüssel.

Kritisch bleibt die Lage bei Nahrungsmitteln. Rund 2,4 Millionen Hektar mit Wintergetreide können nach Angaben des ukrainischen Agrarministeriums wegen des Krieges nicht geerntet werden. Das Getreide habe einen Wert von etwa 1,4 Milliarden Dollar. Der Agrarsektor hat wegen der russischen Invasion bereits einen Verlust von rund 4,3 Milliarden Dollar erlitten. Die Ukraine ist einer der größten Getreidelieferanten weltweit. Die Auswirkungen des Krieges bekommen bereits ärmere Länder zu spüren, die auf die Getreidelieferungen angewiesen sind.

(Weitere Reuters-Büros. Bearbeitet von Elke Ahlswede und Alexander Ratz. Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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