Gelsenkirchen: Von der Boomtown zum Menetekel der Deindustrialisierung

– von Maria Martinez

Gelsenkirchen (Reuters) – “Glück auf, der Steiger kommt”: Auch wenn im Stadion des FC Schalke 04 in Gelsenkirchen noch immer das Hohelied auf die Kumpels mit voller Brust intoniert wird, sind die glorreichen Tage des Bergbaus längst Geschichte – und damit auch Glanz und Gloria der einst blühenden Stadt im Ruhrgebiet.

Klaus Herzmanatus kann ein Lied davon singen. Er war Bergarbeiter in vierter Generation, bevor mit 40 Jahren für ihn “Schicht im Schacht” war: Er wurde in den Vorruhestand geschickt. Kein Einzelschicksal in Gelsenkirchen, das bundesweit die höchste Arbeitslosenquote aufweist. Doch mittlerweile macht das Schlagwort von der Deindustrialisierung in ganz Deutschland die Runde, was auch Herzmanatus umtreibt.

Er klagt, die Politiker in Berlin hätten Deutschland im Stich gelassen: “Wir sind eine Industrienation”: Man dürfe kein Chaos in der Industrie schaffen, sagt der Ex-Bergmann, dessen ostpreußischer Urgroßvater Wilhelm anno 1908 auf der Suche nach Arbeit ins Ruhrgebiet kam. Auch die Wirtschaft schlägt vor der am 23. Februar anstehenden Bundestagswahl Alarm: Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sieht das Land vor dem dritten Rezessionsjahr in Folge, die längste Schwächephase der Nachkriegsgeschichte. Statt in Innovation und Wachstum zu investieren, müssten sich viele Firmen auf den Substanzerhalt konzentrieren. DIHK-Hauptgeschäftsführerin Helena Melnikov warnt: “Wenn sich dieser Trend fortsetzt, droht Deutschland eine weitere Deindustrialisierung.”

Das Schicksal Gelsenkirchens ist eine eindringliche Warnung für den Rest des Landes. Mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen und der höchsten Kinderarmut landete die Ruhrgebietsstadt in einem Ranking von 401 deutschen Städten beim Lebensstandard auf dem letzten Platz. Dabei war sie einst eine Boomtown des Kohlebergbaus im 19. Jahrhundert – dank Arbeitern wie Herzmanatus‘ Urgroßvater. Sie strömten aus ganz Europa hierher, um in Bergwerke wie der zur Kaiserzeit 1873 eröffneten Zeche ‘Hugo’ einzufahren.

“SCHALKE IST HALT INDUSTRIEGESCHICHTE”

Das Ruhrgebiet vor 150 Jahren sei wie “das Silicon Valley heute”, meint Olivier Kruschinski, der seine Heimatstadt Besuchern auf geführten Touren näher bringt: “Auf Gelsenkirchener Kohle geboren und Schalker von Geburt an”, wie er stolz betont. Schalke sei halt Industriegeschichte: “Das ist der entscheidende Punkt. Ich kann den Fußballclub nicht erklären, wenn ich nicht die Industriegeschichte dahinter, also die Bergbaugeschichte erzähle.” Schalke sei praktisch “die Werkself einer Zeche”.

Doch die guten alten Zeiten des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit sind in Gelsenkirchen längst vorbei – und damit auch die im Vereinslied des Zweitligisten besungenen “Tausend Feuer in der Nacht” erloschen. Mit “Hugo” hat Gelsenkirchen im Jahr 2000 seine letzte Zeche verloren, nur noch am Rande wurde die Stadt vom Bergwerk Westerholt tangiert, das 2008 schloss. Für die betroffenen Bergleute wurden laut der Stadt die schlimmsten sozialen Härten abgefedert, allerdings habe die Region viele zehntausend Arbeitsplätze verloren. Der Verfall setzte schon mit dem Niedergang der Kohle- und Schwerindustrie in den 1960er Jahren ein. Gelsenkirchens Einwohnerzahl schrumpfte von damals 390.000 auf nunmehr noch 260.000.

Für Lars Baumgürtel, Geschäftsführer von ZINQ, einem der verbliebenen industriellen Arbeitgeber in Gelsenkirchen, spielt die Frage der Energiekosten eine große Rolle. Das Unternehmen mit 2000 Mitarbeitern hat mit seinen lizenzierten Stahlverzinkungsbeschichtungen Kunden in der ganzen Welt.

Bei einem Rundgang durch sein Industriewerk fordert Baumgürtel die Bundesregierung auf, die nötige Sicherheit zu bieten, damit die Unternehmen während des Übergangs zu einer grüneren Wirtschaft weiter in die Expansion investieren können. Es gehe um die Kardinalfrage: “Werden sich die Investitionen in die Transformation, in die Zukunft der Industrie rechnen?”

TRENDS VERSCHLAFEN

In Gelsenkirchen zeigt sich zugleich exemplarisch, wie Trends verschlafen wurden. Dort setzte man auch nach Einsetzen der Krise weiter voll auf Kohle und Stahl, während das benachbarte Bochum früh auf den Strukturwandel reagierte. Die von Herbert Grönemeyer als “Blume im Revier” besungene Stadt gründete 1965 die erste Universität des Ruhrgebiets. Die Lokalpolitiker Gelsenkirchens entschieden damals, diesem Beispiel nicht zu folgen: “Da hat der hiesige Stadtrat die Ansiedlung einer Universität abgelehnt nach dem Motto ‘Wir haben ja Kohle und Stahl’, was sollen wir mit den bekloppten Akademikern”, sagt Karl-Martin Obermeier, Professor an der Westfälischen Hochschule mit Hauptsitz in Gelsenkirchen, die es erst seit 1992 gibt.

Auch wenn die Probleme tief liegen, ist der frühere Bergmann Herzmanatus überzeugt: “Wir kommen aus diesem Loch wieder heraus”. Besucher des Bergbaumuseums, das er ehrenamtlich leitet, empfängt er mit dem üblichen Bergmannsgruß – “Glück auf”. Das Gleiche möchte man durchaus auch der deutschen Wirtschaft zurufen.

(geschrieben von Reinhard Becker, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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