Union reicht SPD nach Wahlsieg die Hand

Berlin (Reuters) – Union und SPD haben einen Tag nach der Bundestagswahl erste Hinweise gegeben, wie der Weg hin zur Bildung einer neuen Regierung aussehen könnte.

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz kündigte am Montag in Berlin an, noch im Lauf des Tages mit SPD-Co-Chef Lars Klingbeil sprechen zu wollen. Kommende Woche könnten dann erste Sondierungen folgen. “Deutschland braucht eine handlungsfähige Regierung, die eine parlamentarische Mehrheit hinter sich hat”, sagte Merz. Er sei “sehr zuversichtlich”, dass dies gelingen werde. Klingbeil mahnte indes zur Geduld. Ob die SPD in eine unionsgeführte Regierung eintreten werde, “das steht nicht fest”, sagte er in Berlin. Nach der Wahl vom Sonntag kämen Union und SPD zusammen auf eine Mehrheit im neuen Bundestag.

CDU-Chef Merz sagte, die Gespräche mit der SPD zur Bildung einer Regierung seien vorbereitet. Es werde vor allem um drei große Themen gehen. Dies sei zum einen die Außen- und Sicherheitspolitik, die nach den Äußerungen der US-Regierung Priorität habe. Zum anderen lägen Vorschläge zur Migrationspolitik auf dem Tisch – hier deutete Merz Bewegung bei den Grenzkontrollen an. Drittens gehe es um den wirtschaftlichen Aufschwung. “Da gehe ich davon aus, dass die Sozialdemokraten, anders als die Grünen, ein sehr hohes Interesse daran haben, dass die Industriearbeitsplätze in Deutschland erhalten bleiben”, betonte Merz.

Der CSU-Vorsitzende Markus Söder warb erneut für eine Koalition mit der SPD. Dabei lobte er namentlich den bisherigen Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er glaube, dass der von der Union angestrebte Politikwechsel mit der SPD machbar sei. Er nehme aus der SPD ermutigende Signale wahr, dass die Sozialdemokraten zu ihrer Verantwortung stünden. Es gelte, ein Abdriften Deutschlands nach rechts zu verhindern. “Dies ist die letzte Patrone der Demokratie.”

SPD-Co-Chef Klingbeil räumte nach Gremiensitzungen in Berlin ein, dass Deutschland schnell handlungs- und entscheidungsfähig sein müsse. Es könne aber dennoch Wochen oder Monate dauern, bis der Prozess einer Regierungsbildung abgeschlossen sei. Zunächst müsse sondiert werden, danach verhandelt und schließlich müssten die SPD-Mitglieder einem Koalitionsvertrag zustimmen. “All diese Schritte liegen vor uns.” Zudem habe Merz mit Äußerungen in den vergangenen Tagen die Gräben zwischen CDU/CSU und SPD eher tiefer gemacht. Klingbeil betonte: “Das werden harte Jahre für uns, das wird ein harter Kampf.” Zugleich bekräftigte er, dass er am Mittwoch in der neuen SPD-Bundestagsfraktion für den Vorsitz kandidieren werde. Als Co-Parteichef der SPD will er im Amt bleiben.

ESKEN SCHLIESST RÜCKTRITT AUS

Nach Klingbeil schloss auch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken persönliche Konsequenzen aus dem Wahlergebnis der Sozialdemokraten vom Sonntag aus. Sie habe in der Vergangenheit an der Geschlossenheit und der Verantwortung der SPD gearbeitet, “und das gedenke ich auch weiterhin zu tun”, sagte Esken auf eine entsprechende Frage. Die SPD hat bei der Bundestagswahl mit 16,4 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik eingefahren. Rein rechnerisch wäre aber allein eine Koalition mit CDU/CSU zur Bildung einer neuen Regierung möglich, insofern eine Regierungsbeteiligung der in Teilen rechtsextremen AfD ausgeschlossen bleibt.

CDU/CSU gingen aus der Wahl vom Sonntag nach Auszählung aller Wahlkreise mit klaren Zuwächsen auf zusammen 28,5 Prozent als Sieger hervor, wie aus dem am Montag auf der Internetseite der Bundeswahlleiterin veröffentlichten vorläufigen amtlichen Ergebnis hervorgeht. Die AfD erzielt 20,8 Prozent und wird mit diesem Rekordergebnis zweitstärkste Fraktion. In allen ostdeutschen Bundesländern kam die AfD als stärkste Kraft durchs Ziel. Die FDP und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verfehlten die Fünf-Prozent-Marke und gehören dem neuen Bundestag nicht an.

Für die SPD ist das Ergebnis nicht nur ein historisches Tief in der Bundesrepublik. Erstmals wurde mit Olaf Scholz ein SPD-Kanzler nach nur einer Amtszeit abgewählt. Scholz bekräftigte am Montag, bis zur Wahl eines neuen Kanzlers geschäftsführend im Amt bleiben zu wollen. An Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung nimmt er nach eigenen Angaben vom Sonntagabend aber nicht teil. Merz hat das Ziel ausgegeben, dass bis Ostern eine neue Regierung stehen soll. Angesichts der Wirtschaftskrise forderten Vertreter der Wirtschaft Tempo bei den Gesprächen und schnelle Reformen.

“DIE BRANDMAUER MUSS WEG”

Die Grünen rutschten auf 11,6 Prozent ab, verloren von den ehemaligen Ampel-Parteien aber am wenigsten. Die Linke legte deutlich zu und erreichte 8,8 Prozent. Ganz knapp verpasste das BSW mit 4,972 Prozent den Einzug in den Bundestag. Die Partei kündigte an, eine Anfechtung der Wahl juristisch prüfen zu wollen. Die FDP scheiterte zum zweiten Mal nach 2013 mit 4,3 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.

Die Wahlbeteiligung lag laut Bundeswahlleiterin bei 82,5 Prozent und damit deutlich höher als 2021 mit 76,4 Prozent. Es war die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung 1990. Der nächste Bundestag wird 630 Abgeordnete haben. Für eine Mehrheit sind entsprechend 316 Stimmen nötig. Die konstituierende Sitzung ist binnen eines Monats zu erwarten.

FDP-Christian Lindner kündigte als Konsequenz seinen Rückzug aus der Politik an. Der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck sagte, er werde bei der personellen Aufstellung etwa in der Fraktion keine führende Rolle beanspruchen. “Dieses Ergebnis entspricht nicht meinen Erwartungen. Es ist kein gutes Ergebnis.” Linken-Chef Jan van Aken gab die Parole aus: “Friedrich Merz muss sich jetzt warm anziehen.”

AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel sieht die AfD als Volkspartei etabliert. Sie sprach von einem historischen Erfolg ihrer Partei und verwies insbesondere auf das starke Abschneiden unter den Jungwählern. Die AfD habe beste Chancen, in den nächsten Jahren die Union zu überholen. CDU/CSU warf sie erneut eine Blockade-Haltung wegen der Absage an eine Zusammenarbeit vor. “Die Brandmauer muss weg”, forderte Weidel. Die Blockade stehe dem Wählerwillen entgegen.

(Bericht von Andreas Rinke, Alexander Ratz, Holger Hansen, Christian Krämer, Jörn Poltz, Alexander Hübner, Hans Busemann, Rene Wagner; Redigiert von Christian Rüttger; Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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