– von Andreas Rinke und Alexander Ratz
Berlin (Reuters) – Der Bundestag hat am Dienstag in einer historischen Entscheidung eine Lockerung der Schuldenbremse zugunsten höherer Verteidigungsausgaben und ein Sondervermögen Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro beschlossen.
Am Dienstag wurde bei der namentlichen Abstimmung im Bundestag die dafür nötige Zweidrittelmehrheit durch Stimmen der Union, SPD und Grünen erreicht. Nach Angaben von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas stimmten 513 Abgeordnete mit Ja, 207 mit Nein, Enthaltungen gab es keine. Für die für eine Grundgesetzänderung nötige Zweidrittelmehrheit waren mindestens 489 Stimmen erforderlich. Am Freitag muss nun noch der Bundesrat zustimmen – ebenfalls mit einer Zweidrittelmehrheit.
Beschlossen wurde vom Bundestag zum einen das Streichen eines Deckels in der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben. Zum anderen soll nun ein 500 Milliarden Euro umfassender Sondervermögen für Investitionen in Infrastruktur geschaffen werden – eine neue Kreditlinie außerhalb der Schuldenbremse. Drittens sollen die Länder künftig das Recht bekommen, sich bis zu einer Grenze von 0,35 Prozent des BIP wieder verschulden zu können. Die Grünen hatten in Verhandlungen zudem durchgesetzt, dass die Klimaneutralität bis 2045 im Grundgesetz verankert wird. “Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Jahr 2021 hat auch der Klimaschutz Verfassungsrang”, sagte CDU-Chef Friedrich Merz. Das Finanzpaket bildet auch die Grundlage für die Arbeit der angestrebten Regierung von Union und SPD.
MERZ UND KLINGBEIL APPELLIERTEN AN ABGEORDNETE
In der vorangehenden dreistündigen Debatte hatten Redner mehrerer Parteien von einer “historischen” Entscheidung gesprochen. Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil warben im Parlament um Zustimmung für das milliardenschwere Finanzpaket. Die Abgeordneten könnten “mit gutem Gewissen” zustimmen, sagte Merz. Es handele sich zwar um “einen großen Wechsel auf die Zukunft unseres Landes, und damit auch ein Wechsel auf die Zukunft nachfolgender Generationen” – aber dies sei angesichts der russischen Bedrohung gerechtfertigt. SPD, Union und Grüne hatten in Sonderfraktionssitzungen am Dienstagmorgen überprüft, dass ihre Fraktionen fast komplett anwesend waren. In allen drei Fraktionen gab es nur wenige Abweichler.
In einer hitzigen Debatte warfen etwa AfD und FDP Merz eine hemmungslose Schuldenpolitik vor. Der scheidende FDP-Fraktionschef Christian Dürr sprach von einer “Schuko”, einer Schulden-Koalition. AfD-Co-Chef Tino Chrupalla forderte dagegen die Unions-Abgeordneten auf, gegen die Grundgesetzänderung zu stimmen. Anträge von FDP und AfD, auf die Abstimmung im alten Bundestag zu verzichten und eine Entscheidung dem neuen Bundestag zu überlassen, wurden mit Stimmen von Union, SPD und Grünen abgelehnt.
Für die Bundesregierung rechtfertigte Verteidigungsminister Boris Pistorius das schnelle Vorgehen mit einem Beschluss noch im alten Bundestag. “Wer heute zaudert, wer sich heute nicht traut, … der verleugnet die Realität”, sagte der SPD-Politiker in der Debatte. “Wir dürfen keine Zeit verlieren.” Während Pistorius auf die weiter notwendige Kooperation mit den USA hinwies, betonte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dass sich Europa alleine verteidigen können müsse.
Die Grünen erklärten zwar, dass sie sich nach der Einigung mit Union und SPD über das Paket und einige Nachbesserungen für die Grundgesetzänderungen stimmen würden. Allerdings rechneten die Rednerinnen vor allem mit CDU-Chef Merz ab: Grünen-Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf Merz vor, ihre Partei und alle diffamiert zu haben, die schon vor der Wahl eine Reform der Schuldenbremse wollten. “Wir alle wussten, dass dieses Land dringend Investitionen braucht”, kritisierte sie. CDU/CSU hätten sich aber “regelrecht berauscht”, mit einer Überheblichkeit und einem Populismus, “dass einem schlecht werden konnte”.
Die Zustimmung im Bundesrat am Freitag gilt mittlerweile als sicherer, weil auch Bayern seine Zustimmung signalisierte und Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) sich überzeugt zeigte, dass auch sein Land trotz der Koalition mit den Linken zustimmen werde. Damit dürfte die Zweidrittel-Mehrheit stehen.
MERZ UND KLINGBEIL BETONEN DIFFERENZEN BEI VERHANDLUNGEN
In der Debatte wurden auch Differenzen bei den laufenden Koalitionsverhandlungen von Union und SPD deutlich. So betonten Merz und Dobrindt, dass die geplante Grundgesetzänderung für neue Investitionen in die Infrastruktur den Konsolidierungsbedarf der öffentlichen Haushalte sogar noch erhöhen würde. “Die absehbar steigende Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte von Bund und Ländern und die damit einhergehende, ebenfalls absehbar steigende Zinslast zwingen zu erheblichen Einsparungen auf der Ausgabenseite aller Haushalte, der Haushalte des Bundes, der Länder und der Gemeinden”, sagte Merz. Mögliche Einsparungen nannte der CDU-Chef etwa bei einer Reform des Bürgergelds und beim Kampf gegen irreguläre Migration.
SPD-Chef Klingbeil sagte zwar auch, dass mit der Investitionsoffensive auch eine grundlegende Modernisierung des Landes einhergehen müsse. Er warnte aber: “Wer Staatsmodernisierung sagt und damit den Abbau von Arbeitnehmerrechten meint, der macht erstens einen Fehler oder zweitens hat die Sozialdemokratie sehr klar gegen sich.”
(Redigiert von Scot W. Stevenson; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)