Genf/London/Paris (Reuters) – Israel lässt nach fast drei Monaten der Blockade nun wieder etwas mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen.
Die Vereinten Nationen (UN) erklärten am Dienstag, sie hätten die Erlaubnis erhalten, rund hundert weitere Lastwagen mit Hilfsgütern in das weitgehend zerstörte Palästinensergebiet zu schicken. Allerdings gerät Israel zunehmend unter Druck, mehr Hilfen zuzulassen und seine neue Militäroffensive im Gazastreifen zu beenden. Der britische Premierminister Keir Starmer erklärte, er selbst, der französische Präsident Emmanuel Macron und der kanadische Regierungschef Mark Carney seien “entsetzt” wegen der Eskalation im Gazastreifen. Er forderte erneut mehr Hilfe für die Bevölkerung sowie eine Waffenruhe zwischen Israel und Hamas als einzigem Weg zur Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der radikal-islamischen Palästinenser-Organisation. Die drei Politiker hatten am Montag mit “konkreten Maßnahmen” gedroht, sollte Israel seine neue Offensive nicht stoppen und die Beschränkungen für Hilfslieferungen nicht aufheben. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte darauf empört.
“Wir haben heute die Genehmigung für die Einfahrt weiterer Lastwagen beantragt und erhalten, viel mehr als gestern”, sagte Jens Laerke, der Sprecher des UN-Nothilfebüros OCHA, in Genf. Es handele sich um “ungefähr hundert” Lkw. Am Montag hatte Israel nach einer elfwöchigen Blockade wieder Hilfslieferungen in den Gazastreifen, in dem rund 2,3 Millionen Menschen leben, gelassen: Neun Lkw überquerten den Grenzübergang Kerem Schalom. Laerke zufolge gelangten nur fünf davon in den Gazastreifen. Laut UN sind mindestens 500 Lkw mit Lebensmitteln und Medikamenten nötig – pro Tag.
FRANKREICH: GAZASTREIFEN IST ZUM FRIEDHOF GEWORDEN
Israel hat angesichts der drohenden Hungersnot und des wachsenden Drucks westlicher Staaten zwar die Blockade gelockert. Zugleich aber verstärkte es die Offensive gegen die Hamas. In den vergangenen acht Tagen wurden bei israelischen Angriffen nach palästinensischen Angaben mehr als 500 Menschen getötet – allein in der Nacht zu Montag waren es 130, am Dienstag 50. “Die Situation ist unhaltbar, denn die blinde Gewalt der israelischen Regierung und die Blockade humanitärer Hilfe haben den Gazastreifen in einen Ort des Sterbens, um nicht zu sagen in einen Friedhof, verwandelt”, sagte Frankreichs Außenminister Jean-Noel Barrot dem Hörfunksender France Inter.
Auf die Frage, welche konkreten Maßnahmen Frankreich, Großbritannien und Kanada meinten, verwies Barrot auf zunehmende Forderungen von EU-Ländern, ein langjähriges Assoziierungsabkommen mit Israel in Hinblick auf Menschenrechtsklauseln zu überprüfen. “Sobald Verletzungen von Menschenrechten festgestellt werden, ist es möglich, dass das Abkommen ausgesetzt wird”, sagte Barrot. Das hätte Auswirkungen auf den Handel mit Israel. “Die Bilder, die wir aus dem Gazastreifen erhalten, die Lage der Zivilisten, Frauen und Kinder, zwingen uns heute, weiter zu gehen.”
Starmer zufolge sollte Außenminister David Lammy noch im Laufe des Tages Großbritanniens “Antwort im Detail” darlegen. In der gemeinsamen Erklärung Großbritanniens, Frankreichs und Kanadas vom Montag heißt es: “Die Verweigerung lebenswichtiger humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung durch die israelische Regierung ist inakzeptabel und birgt die Gefahr, gegen das humanitäre Völkerrecht zu verstoßen.” Und weiter: “Wenn Israel die erneute Militäroffensive nicht einstellt und die Beschränkungen für humanitäre Hilfe nicht aufhebt, werden wir als Reaktion darauf weitere konkrete Maßnahmen ergreifen.” Die drei Staats- und Regierungschefs fügten mit Blick auf den massiv vorangetriebenen Bau jüdischer, international nicht anerkannter Siedlungen im besetzten Westjordanland, dem anderen Palästinensergebiet, hinzu: “Wir lehnen jeden Versuch ab, die Siedlungen im Westjordanland auszuweiten. … Wir werden nicht zögern, weitere Maßnahmen zu ergreifen, darunter auch gezielte Sanktionen.”
Netanjahu antwortete darauf auf der Online-Plattform X: “Indem sie Israel auffordern, einen Verteidigungskrieg um unser Überleben zu beenden, bevor die Hamas-Terroristen an unserer Grenze vernichtet sind, und indem sie einen palästinensischen Staat fordern, bieten die Staats- und Regierungschefs in London, Ottawa und Paris eine hohe Belohnung für den Völkermordangriff auf Israel am 7. Oktober und laden gleichzeitig zu weiteren solchen Gräueltaten ein.”
Der Krieg im Gazastreifen wurde durch den Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst. Damals wurden nach israelischen Angaben 1200 Menschen getötet und rund 250 weitere in den Gazastreifen verschleppt. Noch gut zwanzig lebende Geiseln sollen sich in der Gewalt der Hamas befinden. Ihre Befreiung und die Vernichtung der Extremisten hat die israelische Regierung zum Ziel ausgerufen. Im Inland wächst die Kritik, dass sie mit ihrer Offensive das Leben der Geiseln gefährdet und nicht genug auf dem Verhandlungsweg für ihre Freilassung unternimmt. Im Ausland wird die Kritik am israelischen Vorgehen angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und der großen Not der Bevölkerung immer lauter.
Seit Beginn der israelischen Militäroffensive unmittelbar nach dem Hamas-Überfall wurden nach palästinensischen Angaben mehr als 53.000 Menschen im Gazastreifen getötet, darunter zahlreiche Zivilisten – Männer, Frauen und Kinder. Der schmale Streifen am Mittelmeer ist weitgehend zerstört. Zwei Millionen Menschen wurden vertrieben – viele von ihnen mehrfach.
(Bericht von: Emma Farge, John Irish, Dominique Vidalon, Charlotte Van Campenhout, Sachin Ravikumar; geschrieben von Sabine Ehrhardt, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)