Berlin (Reuters) – Viele Jugendliche in Deutschland ziehen nach der Schule einen schnellen Jobeinstieg einer Ausbildung vor und riskieren damit eine Zukunft als Ungelernte.
Jeder fünfte Schüler will lieber direkt arbeiten, statt eine formale Berufsausbildung zu beginnen, wie aus einer am Mittwoch veröffentlichten Studie der Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Dies treffe häufig auf junge Menschen mit niedrigem Schulbildungsniveau zu. Für mehr als ein Viertel der 14- bis 25-Jährigen sei der Wunsch, direkt Geld zu verdienen, ein wichtiger Grund gegen eine Lehre. Bei der Erhebung wurden 1755 Personen aus dieser Altersgruppe befragt.
Die Stiftung warnt vor gravierenden Folgen für die Betroffenen und den Arbeitsmarkt. “Sich beruflich zu qualifizieren, muss für junge Menschen attraktiver sein, als ungelernt zu arbeiten”, sagte Helen Renk, Expertin der Bertelsmann Stiftung. “Ohne reguläre Ausbildung steigt das Risiko, arbeitslos zu werden oder im Niedriglohnsektor zu verharren.” Angesichts des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels könne sich Deutschland dies nicht erlauben. Laut Berufsbildungsbericht 2023 besaßen 19 Prozent oder 2,86 Millionen der 20- bis 34-Jährigen keinen Berufsabschluss.
Die baden-württembergische Wirtschaft bezeichnete den hohen Anteil der Jugendlichen, die nach der Schule erst einmal arbeiten statt eine formale Berufsausbildung aufzunehmen, als äußerst bedenklich. “Er droht den demografisch bedingten Fachkräftemangel weiter zu verschärfen”, sagte Stefan Küpper, Geschäftsführer für Bildung, Arbeitsmarkt und Landespolitik beim Verband Unternehmer Baden-Württemberg (UBW). Ein Grund hierfür sei, dass der Mindestlohn stark gestiegen sei. “Der wachsende Abstand zu den Ausbildungsvergütungen, die ihrerseits auch durchaus dynamisch gewachsen sind, entfaltet eine falsche Lenkungswirkung”, betonte Küpper. “Für viele junge Menschen steigt dadurch das langfristige Beschäftigungs- und Einkommensrisiko, denn ohne Berufsausbildung sind die Karrierechancen deutlich eingeschränkt.”
AUSBILDUNG BELIEBTER ALS STUDIUM
Dabei ist die Ausbildung der Studie zufolge mit 43 Prozent weiter der beliebteste Bildungsweg nach der Schule vor einem Studium mit 40 Prozent. “Der langjährige Trend zum Studium scheint gebrochen”, erklärte Ausbildungsexperte Markus Kiss von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). Wichtig sei eine verpflichtende und praxisorientierte Berufsorientierung als bundesweite Pflichtaufgabe an allen Schulen. “Gymnasien dürfen nicht einseitig über das Studium, sondern müssen auch über die sehr guten Perspektiven einer Ausbildung informieren.”
Junge Menschen mit niedriger Schulbildung schätzten ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz laut Studie deutlich pessimistischer ein. Mehr als ein Drittel von ihnen glaube nicht daran oder sei sich nicht sicher, einen Platz zu bekommen. “Ausgerechnet diejenigen jungen Menschen, für die eine Ausbildung die naheliegendste Wahl nach der Schule ist, zweifeln am häufigsten an ihren Chancen”, sagte Stiftungsfachmann Clemens Wieland. Deshalb wollten viele lieber in Aushilfsjobs arbeiten. Es sei wichtig, gerade junge Menschen mit niedriger Schulbildung beim Übergang in den Beruf zu unterstützen und ihnen konkrete Ausbildungsperspektiven aufzuzeigen.
DIHK-Experte Kiss sagte, ein besonders wirksames Instrument sei hier die sogenannte Einstiegsqualifizierung. Junge Menschen, die noch nicht voll für eine klassische Lehre geeignet seien, könnten so in vier bis zwölf Monaten Teile eines Lehrberufes, einen Betrieb und das Berufsleben kennenlernen. “Danach werden viele von ihrem Betrieb in eine reguläre Ausbildung übernommen.”
(Bericht von Klaus Lauer, redigiert von Elke Ahlswede. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)