– von Holger Hansen
Berlin (Reuters) – Die von der SPD als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht nominierte Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf hat nach wochenlangem Koalitionsstreit ihre Kandidatur zurückgezogen.
“Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung”, teilte Brosius-Gersdorf am Donnerstag in einer dreiseitigen Erklärung mit. Als Begründung nannte sie die kategorische Ablehnung durch Teile der CDU/CSU-Fraktion. Zudem wolle sie verhindern, dass sich der Streit in der Regierungskoalition wegen der Richterwahl weiter zuspitze. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch machte den Koalitionspartner Union für das Scheitern verantwortlich. Miersch bedauerte den Rückzug zutiefst und nannte die Angriffe auf Brosius-Gersdorf eine “beispiellose Kampagne”. Die Grünen kritisierten vor allem Unions-Fraktionschef Jens Spahn (CDU).
Die ursprünglich vor der Sommerpause geplante Wahl von drei neuen Richterinnen und Richtern am höchsten deutschen Gericht war kurzfristig abgesetzt worden. Grund waren die in der Unions-Fraktion laut gewordenen Bedenken gegen Brosius-Gersdorf, die von der SPD nominiert worden war. Brosius-Gersdorf war dem Parlament vom Richterwahlausschuss mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit vorgeschlagen worden. Erst im letzten Moment vor der anstehenden Abstimmung im Plenum des Bundestages räumte die Fraktionsspitze der Union ein, dass sie in den eigenen Reihen keine Mehrheit für Brosius-Gersdorf gewährleisten könne.
KLINGBEIL: “SO EIN VORFALL DARF SICH NICHT WIEDERHOLEN”
Vizekanzler und SPD-Co-Chef Lars Klingbeil erklärte, Brosius-Gersdorf sei eine “exzellente Kandidatin”. Was sie “in den letzten Wochen an Anfeindungen erleben musste, ist in keiner Weise akzeptabel”. Ohne die Union zu erwähnen, mahnte Klingbeil: “Diejenigen, die am Ende nicht zu ihrem Wort innerhalb der Koalition gestanden haben, müssen dringend aufarbeiten, was da passiert ist. So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen.”
Miersch warf dem Koalitionspartner vor, Teile der Unions-Fraktion hätten die Wahl blockiert, obwohl die Union einer Einigung ursprünglich zugestimmt habe. Auch die Grünen, die die Kandidatur unterstützt hatten, kritisierten die Union scharf. “Die Verantwortung dafür trägt insbesondere Jens Spahn als Fraktionsvorsitzender”, erklärten die Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann. “Spahn hatte sein Wort gegeben und kann dies nicht mehr halten.”
Miersch bezeichnete Brosius-Gersdorf als “herausragende Juristin”, die “Ziel einer beispiellosen Kampagne” geworden sei: “Die Angriffe, denen sie in den vergangenen Wochen ausgesetzt war, hatten mit einer sachlichen Auseinandersetzung nichts mehr zu tun.” Die SPD werde einen neuen Vorschlag unterbreiten, “weiterhin mit klarer Orientierung an fachlicher Exzellenz”.
Für die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht sind im Bundestag Zwei-Drittel-Mehrheiten erforderlich. Da sich Union und SPD erklärtermaßen nicht von der AfD zu Mehrheiten verhelfen lassen wollen, sind sie dafür im Bundestag auf die Stimmen der Oppositionsfraktionen Grüne und Linke angewiesen. Die Grünen hatten alle drei Kandidaturen mitgetragen. Bei den Linken gab es Vorbehalte, die vor allem darauf beruhten, dass sich die Union wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Partei zu einer Zusammenarbeit nicht um Zustimmung der Linken bemühte.
BROSIUS-GERSDORF: KRITIK AN UNION UND TEILEN DER MEDIEN
“Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht-öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist”, schrieb Brosius-Gersdorf. Um eine Eskalation des Koalitionsstreits und eine Gefährdung der anderen Kandidaten zu vermeiden, ziehe sie ihre Kandidatur zurück. Gleichwohl betonte sie: “Die SPD-Bundestagsfraktion hat bis zuletzt an mir festgehalten. Sie stand uneingeschränkt vor und hinter mir.” Auch Grüne und Linke hätten ihr Rückendeckung gegeben.
Ein zentrales Motiv ihres Rückzugs sei eine unsachliche Auseinandersetzung mit ihrer Position zum Schwangerschaftsabbruch. Ihre Äußerung “Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt” sei skandalisiert worden, ohne die dahinterstehende Argumentation zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtliche Lage verlange differenzierte juristische Argumentation, doch “die Begründung für diesen Satz wurde nicht zur Kenntnis genommen”.
Brosius-Gersdorf kritisierte auch den Umgang mancher Medien mit ihrer Kandidatur. Im Politikteil eines Qualitäts- und Leitmediums sei sie als “ultralinke Aktivistin” diffamiert worden, womit ein “wirklichkeitsfremdes Zerrbild” gezeichnet worden sei. Sie sprach von einem “ehrabschneidenden Journalismus”. Brosius-Gersdorf warnte: “Lässt sich Politik auch künftig von Kampagnen treiben, droht eine nachhaltige Beschädigung des Verfahrens der Bundesverfassungsrichterwahl.”
Brosius-Gersdorf räumte ein, dass ihr Verzicht womöglich viele Menschen enttäusche, die sie zum Durchhalten aufgefordert hätten: “Durchhalten macht aber nur Sinn, wenn es eine reelle Wahlchance gibt, die leider nicht mehr existiert.”
(Bericht von Holger Hansen; Redigiert von Kerstin DörrBei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)