– von Alan Charlish und Lidia Kelly
Warschau/Berlin (Reuters) – Polen hat nach Regierungsangaben mehrere Drohnen abgeschossen, die während eines russischen Angriffs auf die Ukraine am Mittwoch in den Luftraum des Nato-Staats eindrangen.
Es ist der erste bekannte Fall, bei dem ein Mitglied des westlichen Militärbündnisses seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Schüsse abgefeuert hat. Polens Ministerpräsident Donald Tusk beantragte Konsultationen der Nato-Verbündeten nach Artikel vier des Bündnisvertrags. Kanzler Friedrich Merz warf Russland rücksichtsloses Vorgehen vor. Das Bundesverteidigungsministerium betonte, dass die Soldaten des in Polen stationierten deutschen Patriot-Luftabwehrsystems zwar bei der Analyse des militärischen Lagebildes geholfen, aber nicht aktiv eingegriffen hätten. Die britische Regierung kündigte an, sie prüfe militärische Hilfe für Polen.
Der polnische Ministerpräsident sprach von russischen Drohnen. Insgesamt sei der polnische Luftraum in der Nacht 19 Mal verletzt worden. Ein großer Teil der Drohnen sei von Belarus aus eingedrungen. Das Land ist einer der engsten Verbündeten Moskaus und grenzt wie die Ukraine an Polen. An dem Abwehreinsatz waren einem Insider zufolge polnische F-16-Kampfjets, niederländische F-35-Maschinen, italienische AWACS-Aufklärungsflugzeuge sowie gemeinsam von der Nato betriebene Tankflugzeuge beteiligt. Nach Angaben des polnischen Innenministeriums wurden bis Mittag an verschiedenen Orten sieben Drohnen sowie Trümmerteile einer Rakete gefunden. Die Herkunft der Objekte sei noch nicht geklärt. Opfer gab es nach polnischen Angaben keine.
“Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg standen wir einem offenen Konflikt so nah”, erklärte Polens Ministerpräsident Tusk. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sprach davon, dass die Aktion geplant gewesen und kein Zufall sei. Mehrere Flughäfen, darunter der internationale Airport Chopin in der Hauptstadt Warschau, stellten ihren Verkehr vorübergehend ein, bevor das Militär den Einsatz am Vormittag für beendet erklärte. Die Bevölkerung insbesondere im Grenzgebiet wurde während des Vorfalls aufgefordert, aus Sicherheitsgründen zu Hause zu bleiben.
“EXTREM GEFÄHRLICHER PRÄZEDENZFALL”
Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es habe nicht geplant, Ziele in Polen zu treffen. Es habe einen erfolgreichen Großangriff mit Drohnen auf militärische Einrichtungen in der Westukraine gegeben, teilte das Ministerium in Moskau mit. Man sei zu Konsultationen mit dem polnischen Verteidigungsministerium bereit, hieß es weiter.
Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 kam es vereinzelt vor, dass russische Raketen oder Drohnen in den Luftraum von Nachbarländern der Ukraine eindrangen. Dies geschah jedoch nie in einem solchen Ausmaß, und von Abschüssen wurde bislang nichts bekannt. 2022 starben in Polen zwei Menschen durch eine fehlgeleitete ukrainische Flugabwehrrakete.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach dem Vorfall am Mittwoch von “einem weiteren Eskalationsschritt”. Insgesamt habe Russland in der Nacht diesmal 415 Drohnen und 40 Raketen gegen die Ukraine eingesetzt. Mindestens acht der vom Iran hergestellten Drohnen seien auf Polen gerichtet gewesen. Es habe sich nicht um ein Versehen gehandelt. “Das ist ein extrem gefährlicher Präzedenzfall für Europa.” Nötig sei eine starke und gemeinsame Reaktion “der Ukraine, Polens, aller Europäer und der USA”.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte, dass die Drohnen nach ersten Erkenntnissen vermutlich absichtlich in den europäischen Luftraum gesteuert worden seien. “Russland eskaliert absichtlich. Wir müssen sehr entschlossen sein”, sagte sie und forderte neue Sanktionen. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich für weitere Strafmaßnahmen gegen Russland aus.
Die Nato stufte den Vorfall nach Angaben eines Insiders nicht als Angriff ein, sondern als absichtliche Verletzung des Luftraums. Ein Sprecher des Bündnisses sagte, Generalsekretär Mark Rutte stehe mit Warschau in Kontakt und das Bündnis berate sich eng mit Polen.
Großbritannien stellte eine Verstärkung der Nato-Luftverteidigung über Polen in Aussicht. Er habe die britischen Streitkräfte angewiesen, entsprechende Optionen zu prüfen, sagte Verteidigungsminister John Healey nach einem Treffen mit Vertretern aus Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und der Ukraine.
“PUTIN TESTET ENTSCHLOSSENHEIT DES WESTENS”
Neben Kanzler Merz reagierten auch Außenminister Johann Wadephul (CDU) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit scharfer Kritik an Russland. “Russland hat damit leichtfertig eine gefährliche Eskalation in Kauf genommen”, sagte Wadephul. Pistorius sprach von einer gezielten Provokation.
Ähnliche Töne wurden in den USA angeschlagen. Senator Dick Durbin von den Demokraten erklärte, wiederholte Verletzungen des Nato-Luftraums seien ein Zeichen dafür, dass “Putin unsere Entschlossenheit testet, Polen und die baltischen Staaten zu schützen”. Der republikanische Abgeordnete Joe Wilson, ein hochrangiges Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, forderte seinen Parteikollegen US-Präsident Donald Trump auf, mit Sanktionen zu reagieren. “Putin … testet unsere Entschlossenheit jetzt direkt auf Nato-Territorium.” Das US-Präsidialamt kündigte zunächst an, Trump werde mit seinem polnischen Kollegen telefonieren.
(Mitarbeit von Andreas Rinke, Markus Wacket, Alexander Ratz; redigiert von Scot W. Stevenson; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)