Frankreich in der Krise – Ministerpräsident tritt nach nur 27 Tagen zurück

– von Elizabeth Pineau und Michel Rose und Benoit Van Overstraeten

Paris (Reuters) – Frankreich rutscht immer tiefer in die politische Krise. Nach knapp einem Monat im Amt und kaum 14 Stunden nach der Bekanntgabe seines Kabinetts trat Ministerpräsident Sébastien Lecornu am Montag überraschend zurück.

Die Rechtsaußen-Partei RN verlangte umgehend eine Neuwahl. Die linkspopulistische Partei Unbeugsames Frankreich forderte gar Präsident Emmanuel Macron zum Rücktritt auf. Erst am Sonntagabend war das neue Kabinett von Lecornu bekanntgeworden. Verbündete und Gegner drohten umgehend damit, die Regierung zu stürzen. Wie es nun weitergeht, ist unklar, Macron hat sich bislang noch nicht öffentlich dazu geäußert. Die Krise belastet den französischen Aktienmarkt. Auch der Euro geriet unter Druck.

Lecornus Rücktritt nach nur 27 Tagen kam unerwartet. Der 39-Jährige, den Macron Anfang September ernannt hatte, war der fünfte Regierungschef in weniger als zwei Jahren. “Man kann nicht Ministerpräsident sein, wenn die Bedingungen nicht stimmen”, sagte Lecornu in einer kurzen Rede nach seinem Rücktritt. Das Ego von Oppositionspolitikern habe Kompromisse verhindert, erläuterte er. Sie hätten stur an ihren Wahlprogrammen festgehalten. Mitglieder seiner Minderheitsregierung wiederum hätten sich auf ihre eigenen Präsidentschaftsambitionen konzentriert. “Sie sollten ihr Land immer ihrer Partei vorziehen.”

Nach wochenlangen Gesprächen mit allen politischen Parteien hatte Lecornu, ein enger Verbündeter Macrons, am Sonntag seine Minister ernannt. Ihr erstes Treffen sollte am Montagnachmittag stattfinden. Doch das neue Kabinett verärgerte Gegner wie Verbündete gleichermaßen, die es entweder als zu rechts oder als nicht rechts genug empfanden. Dies hatte schon vorher die Frage aufgeworfen, wie lange die Regierung durchhalten könnte – es wurde die kürzeste Dauer im modernen Frankreich. Das Land steckt bereits seit geraumer Zeit in einer tiefen politischen Krise. Keine Fraktion im zersplitterten Parlament verfügt über eine Mehrheit.

Macron kann nun das Parlament auflösen und eine Neuwahl ansetzen oder zurücktreten oder einen neuen Ministerpräsidenten ernennen. Die ersten beiden Optionen hat er in den vergangenen Monaten wiederholt ausgeschlossen. Eine offizielle Reaktion auf Lecornus Rücktritt gibt es von Macron, dessen Mandat bis 2027 geht, bislang nicht.

TIEFERE KRISE SEIT NEUWAHL 2024

Seit Macrons Wiederwahl 2022 ist die politische Lage zunehmend instabil. Er selbst verschärfte die Situation im vergangenen Jahr. Nach der von ihm angesetzten vorgezogenen Wahl ist das Parlament noch stärker zersplittert, womit die Bildung einer Regierung noch schwieriger geworden ist.

Lecornus Vorgänger François Bayrou war neun Monate im Amt und stürzte im Parlament über eine Vertrauensfrage. Bayrou trat für einen Sparkurs ein, mit dem er die Staatsverschuldung in den Griff bekommen wollte. Auch Bayrous Vorgänger Michel Barnier war wegen Einsparbemühungen vom Parlament gestürzt worden. Eine der wichtigsten Aufgaben von Lecornu war es daher, im Parlament eine Mehrheit für den Haushalt 2026 zu finden. Das französische Defizit liegt derzeit bei fast dem Doppelten der in der EU erlaubten Obergrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung. Bis 2029 wollte Lecornu es auf die EU-Obergrenze drücken. Forderungen nach einer Wiedereinführung der Vermögensteuer erteilte er eine Absage. Die oppositionellen Sozialisten verlangen dies im Gegenzug für ihre Unterstützung beim Haushalt. Landesweit hatten Beschäftigte gegen die geplanten Kürzungen protestiert und waren auch in Streik getreten.

(Geschrieben von Kerstin Dörr, redigiert von Sabine Ehrhardt)

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