Lecornu nimmt erneuten Anlauf zur Lösung der Etatkrise: Ausgang offen

Paris (Reuters) – In Frankreich hängt das politische Schicksal des wiederernannten Premierministers Sebastien Lecornu am seidenen Faden.Der enge Vertraute von Präsident Emmanuel Macron steht nach der Regierungsbildung vom Sonntag unter Zugzwang, schon bald einen Haushaltsentwurf für 2026 vorzulegen. Er hat einen erneuten Rücktritt nicht ausgeschlossen, sollte er bei der Verabschiedung des Budgets in dem von tiefen politischen Gräben zerrissenen Parlament scheitern. Anders der Staatschef, der am Montag betonte, er wolle als Präsident weiter für Stabilität sorgen. “Der Rest ist Sache der Regierung”, betonte Macron. Manche Beobachter sind jedoch skeptisch, ob der Premierminister die Woche politisch überstehen wird.

Einem Sprecher des Präsidenten zufolge muss der Entwurf bis Mittwoch vorliegen, um verfassungsmäßige Fristen einzuhalten. Die neue Regierung steht jedoch auf wackligen Füßen. Die Linkspartei LFI sowie der rechtgerichtete Rassemblement National (RN) wollen die Regierung stürzen sehen und reichten am Montag Misstrauensanträge ein. Lecornu wird sich höchstwahrscheinlich am Donnerstag einem Misstrauensvotum stellen müssen.

Die Regierungsparteien der Mitte hoffen auf eine Enthaltung der Sozialisten und Republikaner: “Allerdings stellen die Sozialisten hierfür Forderungen, die den Staatshaushalt zusätzlich belasten würden. Damit bleibt ein Erfolg des Misstrauensvotums das wahrscheinlichste Szenario”, so Commerzbank-Experte Vincent Stamer.

Die Sozialisten fordern von Lecornu die Rücknahme von Macrons Rentenreform und die Einführung einer Milliardärssteuer. Der Premierminister müsse sich dazu verpflichten, die Rentenreform auszusetzen, sagte der sozialistische Abgeordnete Philippe Brun gegenüber Reuters. Damit schloss er sich den Äußerungen von Parteisekretär Olivier Faure vom Sonntag an. Macron hatte die Rentenreform 2023 ohne Abstimmung im Parlament mit einem verfassungsrechtlichen Kniff durchgesetzt.

Eine der umstrittensten Änderungen war die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Lecornu hatte sich offen für Debatten über die Reform geäußert, sofern sie “realistisch” seien. Der RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella sagte im Fernsehsender TF1 auf die Frage, ob er einen Antrag der extremen Linken unterstützen würde: “Ich glaube, dass es jetzt im Interesse Frankreichs liegt, Emmanuel Macron zu stoppen.”

Seit Macrons Wiederwahl 2022 ist die politische Lage von Instabilität geprägt, die der Präsident mit der von ihm 2024 angesetzten vorgezogenen Parlamentswahl verstärkte: Seither ist das Parlament stärker zersplittert. Da sich die politischen Lager zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen, ist die Bildung einer Regierung erschwert. Zugleich ist die Haushaltslage von hoher Verschuldung geprägt: Das französische Defizit liegt derzeit bei fast dem Doppelten der in der EU erlaubten Obergrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung.

KRISE LASTET AUF BONITÄT DES LANDES

Lecornu war erst am Freitag von Macron erneut zum Chef der Regierung ernannt worden. Lecornus vorheriges Kabinett hatte nur 14 Stunden bestanden. Das Präsidialamt hatte am späten Sonntagabend die neue Besetzung der Regierungsposten mitgeteilt. Roland Lescure wurde als Finanzminister wiederernannt. Er gilt als enger Verbündeter Macrons. Ob die neue Regierungsmannschaft lange durchhält, ist jedoch unklar: “Wir sind nicht optimistisch und halten Neuwahlen weiterhin für das wahrscheinlichste Ergebnis”, sagte Stratege Mohit Kumar vom Finanzinstitut Jefferies. Er befürchte, dass die politische Unsicherheit zu einer weiteren Herabstufung der Bonität Frankreichs durch die Ratingagentur Moody’s am 24. Oktober beziehungsweise durch S&P am 28. November führen könnte.

Die US-Ratingagentur Fitch hatte die Kreditwürdigkeit von Frankreich wegen der politischen Krise und steigender Schulden bereits im September heruntergestuft: Sie setzte die Bonitätsnote für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone auf A+ von zuvor AA-.

(Bericht von Geert De Clercq, Blandine Hénault, Nicolas Delame et Zhifan Liu, Elizabeth Pinea, geschrieben von Reinhard Becker, redigiert von Christian Rüttger. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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