– von Andreas Rinke, Markus Wacket und Holger Hansen –
Berlin, 06. Mai (Reuters) – CDU-Chef Friedrich Merz ist bei der Wahl zum Bundeskanzler im ersten Wahlgang überraschend gescheitert. Die Fraktionen von Union, SPD, Grünen und Linken verhandeln darüber, ob es nach der Niederlage am Dienstag einen zweiten Wahlgang am Mittwoch geben kann. Eine Alternative wäre Freitag.
Merz sei entschlossen, erneut anzutreten und habe dafür große Rückendeckung seiner Fraktion bekommen, erfuhr Reuters aus Parteikreisen. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass eine Kanzlerwahl scheitert. In der Union war von einem “maximalen Schaden für das Ansehen Deutschlands” die Rede – zumal nun auch die Antrittsbesuche von Merz in Paris und Warschau am Mittwoch auf der Kippe stehen.
Der 69-jährige Merz erhielt nur 310 Ja-Stimmen und verfehlte damit die Kanzlermehrheit von 316 Stimmen. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner teilte mit, dass von den 630 Abgeordneten neun nicht mitgestimmt und 307 mit Nein gestimmt hätten. Drei Parlamentarier enthielten sich in der geheimen Abstimmung. Eine Stimme sei ungültig gewesen, sagte Klöckner.
Merz und der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil hatten am Montag noch betont, dass sie fest mit einer klaren Mehrheit der künftigen Regierungsfraktionen bei der Kanzlerwahl rechneten. Bei Sonderfraktionssitzungen am Dienstagmorgen hatten Union und SPD festgestellt, dass alle Abgeordneten anwesend sind.
SPD WEIST VORWURF DER ABWEICHLER ZURÜCK
Dass nun Abgeordnete von Union oder SPD doch nicht für Merz stimmten, wurde in Koalitionskreisen damit erklärt, dass es offenbar eine Reihe Unzufriedene gebe. Dazu könnten Politiker gehören, die bei der Regierungsbildung nicht mit Posten bedacht wurden. In der SPD hatte es aber auch grundsätzliche Vorbehalte gegen Merz gegeben. Laut Umfragen hält mehr als die Hälfte der SPD-Anhänger Merz nicht für den geeigneten Kanzler. In der Union wiederum sorgten die nach der Wahl veränderte Finanzpolitik mit der Aufweichung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben und ein milliardenschweres Sondervermögen für Infrastruktur teilweise für Kritik.
In der Union wurde direkt nach der Abstimmung auf die SPD verwiesen. Dort herrsche keine gute Stimmung. Merz hatte am Montag die SPD-Fraktion besucht und dabei für eine Zustimmung geworben. “Wir gehen bei uns von voller Zustimmung aus. Gefehlt hat auch niemand”, hieß es dagegen am Dienstag aus dem Umfeld Klingbeils. In der Fraktion hatte es an anderer Stelle geheißen, Unzufriedenheit mit der Machtfülle Klingbeils hätte zur Verweigerung beigetragen haben können.
Der Linken-Co-Vorsitzende Jan van Aken sagte, wenn Merz noch nicht einmal das Vertrauen der eigenen Leute bekomme, könne er auch kein Vertrauen der Menschen gewinnen, die mit den Problemen des Alltags zu kämpfen hätten. “Ihm gelingt es nicht zu verbinden, sondern nur zu spalten.” Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, sieht die Abweichler in den Reihen der Union und sagte, dass Merz den Preis für sein Taktieren in den vergangenen Monaten zahle.
ZWEITER WAHLGANG AM MITTWOCH?
Die Fraktionschefs von Union, SPD, Grünen und Linken verhandelten am Mittag immer noch über eine Fristverkürzung für einen neuen Wahlgang. Nach Aussagen aus Parlamentskreisen wäre diese Verständigung nötig, um die geheime Abstimmung nicht am Freitag, sondern bereits am Mittwoch durchzuführen. Dazu sei eine Zweidrittelmehrheit erforderlich – die AfD wird dafür nicht gebraucht. Das Vorschlagsrecht hat diesmal nicht mehr der Bundespräsident, sondern der Bundestag selbst. Sowohl die Grünen als auch die Linken signalisierten Zustimmung für eine Fristverkürzung.
Allerdings wäre juristisch nach Angaben aus Parlamentskreisen auch ein zweiter Wahlgang am Dienstag möglich – dazu müssten aber alle Fraktionen zustimmen. Dies würde bedeuten, dass man eine Verabredung mit der AfD treffen müsste, was die anderen Parteien bisher ablehnen.
Ohne einen zweiten Wahlgang am Dienstag sind auch die Reisepläne Merz’ gefährdet. Der CDU-Chef wollte am Mittwoch seine Antrittsbesuche in Paris und Warschau machen.
Die Wahl verfolgten auf der Besuchertribüne unter anderen Merz’ Frau und Töchter sowie die frühere Kanzlerin Angela Merkel. Die Parteichefs von CDU, CSU und SPD hatten am Montag den Koalitionsvertrag des schwarz-roten Bündnisses unterzeichnet. Die Unionsfraktion hatte zudem Jens Spahn zum Fraktionschef und Nachfolger von Merz auf diesem Posten gewählt – Merz hat also derzeit außer dem CDU-Vorsitz kein Amt inne. In der SPD wurde Matthias Miersch als Vorsitzender der Fraktion vorgeschlagen.
(Redigiert von Thomas Seythal)