Inflation mit 7,9 Prozent so hoch wie zuletzt Anfang der 1970er Jahre

– von Rene Wagner und Reinhard Becker

Berlin (Reuters) – Teures Tanken und Essen lassen die deutschen Verbraucherpreise im Mai so stark steigen wie seit annähernd 50 Jahren nicht mehr.

Waren und Dienstleistungen kosteten im Mai durchschnittlich 7,9 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, wie das Statistische Bundesamt am Montag in einer ersten Schätzung mitteilte. Von Reuters befragte Ökonomen hatten nur mit 7,6 Prozent gerechnet, nachdem die Teuerungsrate im April bei 7,4 Prozent gelegen hatte. Ähnlich hoch war sie zuletzt im Winter 1973/1974, als infolge der ersten Ölkrise die Kraftstoffe ebenfalls stark gestiegen waren. Bei der Europäischen Zentralbank (EZB) dürften nach dem Preissprung in der größten Volkswirtschaft der Euro-Zone die Alarmglocken schrillen: Sie strebt für den Euroraum ein Niveau von 2,0 Prozent an, entfernt sich davon aber immer mehr.

“Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine sind insbesondere die Preise für Energie merklich angestiegen und beeinflussen die hohe Inflationsrate erheblich”, erklärten die Statistiker den Trend. So kletterten die Energiepreise um 38,3 Prozent. Nahrungsmittel verteuerten sich um 11,1 Prozent und damit so stark wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Hinzu kommen Materialengpässe durch unterbrochene Lieferketten aufgrund der Corona-Pandemie, die noch viele andere Waren teurer machen.

TANKRABATT ENTLASTET KURZFRISTIG

Experten gehen davon aus, dass die Inflationsdruck vorerst sehr hoch bleiben wird. “Bei den von Lieferengpässen getroffenen Gütern und bei Nahrungsmitteln steckt wohl noch etwas Druck in der Pipeline, bevor die Lage sich ab dem Herbst entspannen dürfte”, sagte der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. “Der Tankrabatt und andere Eingriffe dürften aber dafür sorgen, dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten in Deutschland nicht weiter steigt.”

Der Bund verzichtet in den kommenden drei Monaten auf etwa drei Milliarden Euro an Steuern, um Benzin und Diesel von Juni bis Ende August günstiger zu machen. Rein rechnerisch bedeutet dies bei Benzin 29,55 Cent und beim Diesel 14,04 Cent pro Liter weniger. Auch das 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr könnte kurzfristig entlasten. Experten wie LBBW-Ökonom Jens-Oliver Niklasch sehen darin keine echte Verbesserung, “sondern eher das Lehrbuchbeispiel für fiskalischen Aktionismus”, wie er betonte. “Entlastung wird es erst geben, wenn den hohen Energiepreisen Einhalt geboten ist, danach sieht es aber vorerst nicht aus.”

GIPFEL BALD ERREICHT?

Immerhin: “Die Inflation befindet sich jetzt nahe an ihrem Gipfelpunkt”, sagte Ökonom Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Ab Jahresmitte dürfte die Rate allein schon aus statistischen Gründen fallen. “Dieser absehbare Rückgang darf aber nicht als langfristige Entspannung missverstanden werden”, warnte der Experte zugleich. Bundesbankchef Joachim Nagel geht davon aus, dass es noch “etwas dauern” kann, bis die Inflation sinkt. Er dringt auf eine Zinserhöhung im Juli, der weitere Schritte noch im laufenden Jahr folgen sollten.

Höhere Zinsen dürften den Euro stützen, was Importe von Rohstoffen wie Öl billiger machen würde. Trotz rasant steigender Preise kauft die EZB noch immer Staatsanleihen auf – eine Notmaßnahme, mit der sie die Wirtschaft in der Pandemie ankurbeln wollte. Auf ihrer nächsten Sitzung dürfte das Abschalten des Programms beschlossen werden. Laut EZB-Chefin Christine Lagarde werden dann auch wohl bis Ende des dritten Quartals negative Zinsen Geschichte sein. Der Einlagensatz der EZB liegt derzeit bei minus 0,5 Prozent. Das bedeutet, dass Banken Gebühren zahlen müssen, wenn sie überschüssige Gelder bei der Zentralbank parken.

Die stark steigenden Verbraucherpreise belasten die Kaufkraft der Deutschen. Zwar stiegen die Löhne im ersten Quartal um kräftige 4,0 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Da die Preise in dieser Zeit aber um 5,8 Prozent zulegten, sanken die Reallöhne um 1,8 Prozent. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) geht davon aus, dass die Reallohnverluste zumindest bis zum Jahresende anhalten. “Im kommenden Jahr ist eine Trendwende möglich”, sagte der wissenschaftliche IMK-Direktor Sebastian Dullien zu Reuters. “Allerdings dürften auch dann nicht sofort alle Reallohnverluste aufgeholt werden, die sich aus der hohen Inflation 2022 ergeben.”

Deshalb sei es wichtig, dass die Politik mit gezielten Entlastungspaketen helfe, die Kaufkraft der Privathaushalte zu stabilisieren. Die bisherigen Maßnahmen dürften zwar viele Haushalte spürbar bei der Mehrbelastung durch teurere Energie für das laufende Jahr entlasten, Rentnerinnen und Rentnern sowie Studierenden blieben außen vor. “Außerdem deckt die Entlastung noch nicht die gestiegenen Nahrungsmittelpreise ab”, sagte Dullien. “Da die Reallöhne 2023 noch unter dem Niveau von 2021 liegen dürften, sind außerdem weitere staatliche Einmalzahlungen für das kommende Jahr notwendig.”

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