Streit über tote Geiseln – Israel lässt Hilfen für Gaza zu

– von Steven Scheer und Nidal al-Mughrabi

Jerusalem/Kairo (Reuters) – Trotz eines Streits über die Rückgabe der Leichen von Geiseln, der das brüchige Abkommen einer Waffenruhe mit der Hamas zu gefährden droht, hat Israel am Mittwoch Hilfslieferungen in den Gazastreifen zugelassen.

Zudem wurde eine Öffnung des wichtigen Grenzübergangs Rafah zwischen Ägypten und dem palästinensischen Küstengebiets in die Wege geleitet. Ein israelischer Sicherheitsbeamter sagte, die Vorbereitungen zur Öffnung von Rafah für die Bewohner des Gazastreifens seien im Gange. Einem zweiten Sicherheitsbeamten zufolge sollten 600 Lastwagen mit Hilfsgütern in das Palästinensergebiet fahren.

Die Palästinensische Autonomiebehörde PA ist nach eigenen Angaben mittlerweile in der Lage, die Zuständigkeit für den für Hilfslieferungen wichtigen Grenzübergang Rafah zu übernehmen. “Wir sind jetzt wieder bereit, uns zu engagieren, und haben alle Parteien darüber informiert, dass wir bereit sind, den Grenzübergang Rafah zu betreiben”, sagte Mohammad Schtajjeh, Sondergesandter von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Die PA hat ihren Sitz in Ramallah im Westjordanland. Im Gazastreifen hatte sie indes bislang nicht das Sagen.

Die israelische Regierung hatte damit gedroht, den Grenzübergang Rafah geschlossen zu halten und die Hilfslieferungen zu reduzieren. Sie warf der Hamas vor, die Leichen von Geiseln zu langsam zurückzugeben. Am Montag hatte die Hamas vier Särge übergeben, in der Nacht zum Mittwoch folgten vier weitere. Nach israelischen Angaben handelte es sich bei einem der zuletzt übergebenen Leichname jedoch nicht um eine Geisel. Gemäß des Waffenruhe-Plans soll die Hamas die Leichen aller 28 toten israelische Geiseln übergeben.

Die Auseinandersetzung um die Leichen birgt weiterhin das Potenzial, die Waffenruhe zu gefährden. Auch andere zentrale Fragen sind noch ungelöst. Spätere Phasen des von den USA vermittelten Abkommens sehen vor, dass die Hamas die Macht im Gazastreifen abgibt und ihre Kämpfer entwaffnet, was die Organisation bisher jedoch ablehnt. Stattdessen demonstrierte sie ihre Macht im Gazastreifen durch öffentliche Hinrichtungen und Auseinandersetzungen mit lokalen Clans.

“NAZI-TERRORISMUS VERSTEHT NUR GEWALT”

Insgesamt müssten sich noch 21 Geiselleichen im Gazastreifen befinden, einige könnten jedoch aufgrund der Zerstörungen während des Konflikts nur schwer zu bergen sein. Das Abkommen verpflichtet Israel zudem zur Rückgabe der Leichen von 360 im Krieg getöteten palästinensischen Kämpfern. Eine erste Gruppe von 45 Leichen war am Dienstag übergeben worden.

Der Krieg hat im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Nahezu alle Einwohner wurden aus ihren Häusern vertrieben. Reuters-Videoaufnahmen zeigten, wie am Mittwochmorgen erste Lastwagen, darunter Tankwagen mit Treibstoff, von Ägypten aus zum Grenzübergang Rafah fuhren. Die Hilfslieferungen sollen Lebensmittel, medizinische Güter, Treibstoff, Kochgas und Ausrüstung zur Reparatur wichtiger Infrastruktur umfassen. Die Lieferungen erfolgen auch über andere Übergänge wie Kerem Schalom.

Der rechtsextreme israelische Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ein Gegner der Waffenruhe, bezeichnete die Hilfslieferungen auf der Online-Plattform X als “Schande”. “Nazi-Terrorismus versteht nur Gewalt, und der einzige Weg, Probleme mit ihm zu lösen, ist, ihn von der Erde zu tilgen”, fügte er hinzu. In der israelischen Regierung hält sich die Sorge, dass die Hilfslieferungen von der Hamas abgefangen werden könnten.

“EKLATANTER VERSTOSS GEGEN DIE MENSCHENRECHTE”

Mehrere andere palästinensische Fraktionen unterstützen das Vorgehen der Hamas gegen lokale Clans, die während des Konflikts versucht hatten, die Kontrolle über Teile des Gazastreifens zu übernehmen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas verurteilte jedoch die öffentlichen Hinrichtungen, nachdem ein von Reuters authentifiziertes Video zeigte, wie maskierte Bewaffnete sieben gefesselte, kniende Männer auf einer Straße im Gazastreifen erschossen. Das Büro von Abbas nannte die Tötungen ein Verbrechen und einen “eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte”.

Auch die Bundesregierung verurteilte das Vorgehen der Hamas scharf. “Das unterstreicht noch einmal deutlich, … wir haben es bei der Hamas mit einer Terror-Organisation zu tun”, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin. “Und diese Willkür-Erschießungen sind nichts anderes als Terror gegen die Bevölkerung.” Damit werde einer Selbstbestimmung der palästinensischen Bevölkerung entgegengewirkt. Die Hamas müsse entwaffnet werden, mahnte er.

Die israelischen Streitkräfte haben sich auf eine im Waffenruheabkommen festgelegte “gelbe Linie” außerhalb der großen Städte des Gazastreifens zurückgezogen. Verteidigungsminister Israel Katz erklärte, man werde jeden Verstoß gegen diese Linie sofort ahnden. Am Dienstag hatten israelische Soldaten deswegen das Feuer eröffnet. Nach palästinensischen Angaben wurden dabei mehrere Menschen getötet.

(Mitarbeit Maayan Lubell in Jerusalem, Olivia Le Poidevin in Genf; Tala Ramadan, Jana Choukeir und Ahmed Elimam; Bearbeitet von Alexander Ratz; Redigiert von Christian Rüttger. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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