– von Andreas Rinke und Christian Krämer
Berlin (Reuters) – Erstmals hat ein Bundeskabinett schwerpunktmäßig keine neuen Gesetze beschlossen, sondern sich vor allem mit Maßnahmen zum Abbau bestehender Regulierungen beschäftigt.
In der Sitzung am Mittwoch legte Digitalminister Karsten Wildberger einen umfassenden Bericht zu Schritten der Entbürokratisierung vor, der 50 konkrete Projekte enthält. Erste Maßnahmen wie etwa der “Bau-Turbo” oder das Vergabebeschleunigungsgesetz haben laut Wildberger bereits Einsparungen von drei Milliarden Euro gebracht. Allerdings zeigten sich sowohl die Wirtschaft als auch die Regierungsberater vom Normenkontrollrat überwiegend unzufrieden. DIHK-Hauptgeschäftsführerin Helena Melnikov forderte einen Befreiungsschlag. “Das heutige ‘Entlastungskabinett’ gibt den Startschuss, künftig muss es um eine schnelle und umfassende Umsetzung gehen”, sagte der Präsident des Digitalverbandes Bitkom, Ralf Wintergerst.
Im schwarz-roten Koalitionsvertrag war festgelegt worden, dass die Wirtschaft bis zum Ende der Legislaturperiode um 25 Prozent der Bürokratiekosten entlastet wird, was mit 16 Milliarden Euro beziffert wird. Kanzler Friedrich Merz hatte am Montag angekündigt, dass er ab jetzt regelmäßige Kabinettssitzungen zum Bürokratieabbau möchte – “möglicherweise bis zu einmal im Quartal”.
Zu den am Mittwoch beschlossenen Maßnahmen gehören etwa schlankere Planungs- und Genehmigungsverfahren für Verkehrswege. So soll eine Anpassung des Bauvertragsrechts für weniger Vorgaben sorgen, um Bauen schneller und billiger zu machen. Beim Arbeitsschutz wird etwa die Schwelle der Unternehmensgrößen für die nötige Benennung eines Sicherheitsbeauftragten erhöht: Weil die Vorschrift erst ab 250 (bisher 50) Mitarbeitern greift, werden nach Angaben der Regierung mehr als 120.000 Beauftragte überflüssig. Die Regierung habe nun einen konkreten Plan für langfristigen Bürokratierückbau, sagte Wildberger.
In dem Bericht des für Staatsmodernisierung zuständigen Digitalministeriums heißt es zudem in einem anderen Kapitel, dass weitere Maßnahmen “zum ganz überwiegenden Teil spätestens zum Ende des zweiten Quartals 2026 verabschiedet werden.” Diese sollen dann eine Entlastung in Höhe von mehreren Milliarden Euro bringen.
Auch Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) bekannte sich zum Abbau von Regularien: “Wir wollen, dass es für Unternehmen leichter wird, zu wachsen und zu investieren. Deshalb streichen wir unnötige Prüf-, Melde- und Anzeigenpflichten, ohne dabei Abstriche bei Verbraucher- und Anlegerschutz zu machen”, erklärte der Finanzminister.
WIRTSCHAFT BLEIBT MISSTRAUISCH
Der Bundesverband der Deutschen Industrie zeigte sich dennoch nicht zufrieden. Er hatte eine Liste mit 250 Vorschlägen für den Bürokratieabbau vorgelegt. Ohne explizite Rückendeckung von Merz und Klingbeil drohe die Modernisierungsagenda auf den Schreibtischen in den einzelnen Ministerien liegen zu bleiben, warnte BDI-Hauptgeschäftsführerin Tanja Gönner. “Vorschläge aus der Praxis liegen zu Hunderten auf dem Tisch.”
In der Wirtschaft gibt es erhebliches Misstrauen an den Plänen zum Bürokratieabbau: “Jede Regierung kündigt ihn an, keine zieht ihn durch”, sagte etwa der Hauptgeschäftsführer des Chemieverbands VCI, Wolfgang Große Entrup. Die Wirtschaft verliere deswegen die Geduld. “Der Bürokratieinfarkt ist nahe.” Es gebe zu viele Formulare, Nachweispflichten und Absurditäten. “Die Regulierungsflut aus Berlin und Brüssel ist für unsere Branche das Schlimmste am Standort – noch vor Energiepreisen und Steuern.”
Die Deutsche Industrie- und Handelskammer verwies darauf, dass die Bürokratiekosten laut Normenkontrollrat, dem unabhängigen Beratergremium der Bundesregierung, derzeit 64 Milliarden Euro pro Jahr betragen. Der entstehende Wertschöpfungsverlust liege sogar insgesamt bei 146 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung, erklärte DIHK-Hauptgeschäftsführerin Melnikov. Sie betonte, dass neben den Kosten auch das mit den Vorschriften verbundene Misstrauen des Staates demotivierend auf Unternehmerinnen und Unternehmer wirke.
Während Digitalminister Wildberger die Zusammenarbeit mit den anderen Ministerien lobte, kam Kritik auch vom Normenkontrollrat. Dieser sprach von nur rund 100 Millionen Euro Entlastung, mit denen durch die nun beschlossenen Projekte gerechnet werden könne. “Im Vergleich zu anderen Kabinettssitzungen dieser Legislaturperiode ist dies eher ein durchschnittliches Ergebnis”, sagte Lutz Goebel, der Vorsitzende des Normenkontrollrats. “Die Ursachen für diese vergleichsweise geringe Wirkung liegen unter anderem darin, dass nicht alle Ressorts ausreichend zugeliefert haben – teils mit Verweis auf bereits beschlossene Entlastungsmaßnahmen aus früheren Kabinettssitzungen oder auf Initiativen, die noch in der Vorbereitung sind.”
(Bericht von Andreas Rinke, Christian Krämer; redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)










