Hängepartie in Italien – Spekulationen über Neuwahl

Rom (Reuters) – Nach dem abgelehnten Rücktrittsgesuch von Ministerpräsident Mario Draghi könnte Italien laut Stimmen aus der Regierung um vorgezogene Neuwahlen nicht herumkommen.

Die Chancen, die breite Koalition unter dem ehemaligen EZB-Präsidenten wiederzubeleben, wurden in Draghis Umfeld am Freitag als gering eingeschätzt. Zwei Vertreter von Draghis Büro sagten, der 74-Jährige sei zum Rücktritt entschlossen; am wahrscheinlichsten seien Neuwahlen Anfang Oktober. Regulär würde in der ersten Hälfte kommenden Jahres gewählt. Draghi hatte am Donnerstag nach einem Streit mit der 5-Sterne-Partei, einem wichtigen Koalitionspartner, seinen Rücktritt eingereicht. Präsident Sergio Mattarella lehnte aber ab und forderte Draghi zu Sondierungen im Parlament auf.

Eine Fortsetzung der Koalition ohne Draghi können sich Kabinettsmitglieder aus verschiedenen Parteien nicht vorstellen. “Italien kommt ohne Mario Draghi nicht aus”, schrieb der zur Mitte-Rechts-Partei Forza Italia gehörende Minister für öffentliche Verwaltung, Renato Brunetta, auf Twitter. “Wir können die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen, das wir uns in Europa und der Welt erworben haben, nicht in solchen schwierigen Zeiten verlieren.” Draghi hat eine wichtige Rolle bei der EU-Reaktion auf den Ukraine-Krieg sowie bei der Stabilisierung der italienischen Finanzen gespielt.

“Die Regierung Draghi und die Koalition, die dahinterstand, müssen weitermachen, aber im Moment sehe ich das als sehr, sehr schwierig an”, sagte Außenminister Luigi Di Maio dem Radiosender RTL. Sollte in der Regierung keine Einigung erzielt werden, sei ein Votum im Herbst der einzige Ausweg – allerdings kein guter. “Eine vorgezogene Wahl (…) ist ein Problem für das Land.” Zudem könne eine Übergangsregierung keine Reformen umsetzen, die für EU-Mittel zur Bewältigung der Corona-Krise nötig seien, und keine Maßnahmen gegen die hohen Energiepreise ergreifen.

Durch die politische Turbulenzen könne gerade Italien besonders hart von der europäischen Energiekrise getroffen werden, sagte EZB-Ratsmitglied Olli Rehn. Draghi habe “dem politischen Entscheidungsprozess in Italien dringend benötigte Stabilität, Beharrlichkeit und Entschlossenheit gebracht”, sagte Rehn. “Es könnte sein, dass wir eine sehr schwierige Zeit in Italien sehen werden.” Die Befürchtungen des finnischen Notenbankchefs unterstrichen die auch an den Finanzmärkten vorherrschende Einschätzung, dass Italien ins politische Chaos abgleiten könnte.

Draghis Pläne im Kampf gegen hohe Lebenshaltungskosten hatten zum Streit in der Koalition geführt. Zwar überstand seine Regierung ein Misstrauensvotum. Dabei enthielten sich jedoch die Abgeordneten der 5-Sterne-Bewegung mit der Begründung, dass Draghis Vorhaben nicht weit genug gehe. Draghi hatte vor dem Misstrauensvotum angekündigt, seine Regierung könne ohne die Unterstützung der 5-Sterne-Bewegung nicht fortbestehen.

Von Neuwahlen profitieren könnte die rechtsextreme Partei Brüder Italiens, die Draghis Koalition nicht angehört. In der Opposition hat die Partei zuletzt an Zustimmung gewonnen und könnte bei der nächsten Wahl zur stärksten Kraft im Parlament aufsteigen. Parteichefin Giorgia Meloni forderte nach Draghis Rücktrittsgesuch sofortige Neuwahlen. Die 5-Sterne-Bewegung, die mit ihrem Boykott der Vertrauensabstimmung die aktuelle Krise losgetreten hat, kämpft dagegen mit sinkenden Umfragewerten. Kritiker werfen der Bewegung vor, dem Votum aus reinem Eigennutz ferngeblieben zu sein, um ihr Profil bei den Wählern zu schärfen.

(Bericht von By Crispian Balmer und Giuseppe Fonte, geschrieben von Elke Ahlswede. Redigiert von Hans Busemann; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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