Rätselraten über Russlands Gas – EU legt Notfallplan vor

– von Kate Abnett und Andreas Rinke

Brüssel/Berlin (Reuters) – Die Unsicherheit über künftige Gaslieferungen aus Russland wird immer größer.

Russlands Präsident Wladimir Putin deutete am Mittwoch an, dass der russische Energiekonzern Gazprom auch nach Ende der Wartung der Nord Stream 1-Pipeline nicht wieder die volle Gasmenge nach Westen liefern werde. Die Bundesregierung wies die Begründung einer fehlenden Turbine umgehend als vorgeschoben zurück und erinnerte Gazprom an seine vertraglichen Verpflichtungen. In Brüssel sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass sie den völligen Stopp von Lieferungen Russlands für ein “wahrscheinliches Szenario” halte. Die EU-Kommission fordert von den 27 EU-Staaten in den kommenden Monaten in einem Notfallplan deshalb Gas-Einsparungen von jeweils 15 Prozent.

Putin hatte am Mittwoch gesagt, dass die Kapazitäten weiter reduziert werden könnten, weil die Wartung bestimmter Bestandteile der Nord Stream 1-Pipeline nur langsam vorankämen. Gazprom hatte die Kapazität bereits vor der am 11. Juli begonnenen und auf zehn Tage ausgelegten Pause auf 40 Prozent gedrosselt und dies auf die Wartung einer Turbine zurückgeführt. Russlands Präsident betonte, die Verantwortung für reduzierte Kapazitäten liege nicht bei Gazprom. Es gebe bei Nord Stream 1 fünf von Siemens Energy betriebene Pumpmodule, sagte Putin nach seinem Besuch im Iran vor Journalisten. Eine weitere Einheit sei außer Betrieb, weil die Innenauskleidung bröckele. “Es gibt dort zwei funktionierende Maschinen, sie pumpen 60 Millionen Kubikmeter pro Tag… Wenn eine nicht zurückkommt, gibt es eine, das macht 30 Millionen Kubikmeter. Hat Gazprom damit zu etwas tun?” Die turnusgemäße Wartung der Nord Stream 1-Pipeline endet am Donnerstag.

Die Bundesregierung wies dies erneut zurück und betonte, technische Probleme seien nur vorgeschoben. Die aus Kanada gelieferte Turbine sei erst für einen Einsatz im September vorgesehen gewesen, hatte das Wirtschaftsministerium mitgeteilt. Eine Regierungssprecherin wollte am Mittwoch nicht sagen, ob die betroffenen deutschen Gasimporteure wie Uniper Gazprom nun verklagen. Die Bundesregierung bemüht sich derzeit wie andere EU-Staaten und die EU-Kommission im Eiltempo, Gaslieferungen aus anderen Ländern als Ersatz für russisches Gas zu erhalten. Die Regierung plant dabei mit bis zu fünf LNG-Terminals an der deutschen Küste. Anders als bei Kohle und Öl gibt es aber keine EU-Sanktionen gegen Gaslieferungen aus Russland.

“Russland erpresst uns. Russland setzt Energie als Waffe ein”, sagte EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Brüssel. “Und deshalb muss Europa in jedem Fall bereit sein, egal ob es sich um eine teilweise oder vollständige Kürzung des russischen Gases handelt”, fügte sie hinzu. Die EU-Kommission rechnet damit, dass das Bruttosozialprodukt bei einem völligen Stopp der russischen Lieferungen im Schnitt der EU-Länder um 0,9 bis 1,5 Prozent sinken könnte.

Die EU-Kommission will den Druck dadurch mindern, dass die EU-Staaten in den kommenden Monaten jeweils 15 Prozent ihres Gasverbrauchs einsparen. Von August bis März solle so viel Gas im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch desselben Zeitraums in den Jahren 2016 bis 2021 eingespart werden, teilte die EU-Kommission mit. Diese Einsparziele sollen zunächst freiwillig sein, könnten aber im Fall einer Versorgungsnotlage obligatorisch werden, heißt es in dem Kommissionspapier. Ab Freitag sollen Diplomaten der EU-Länder über die Vorlage diskutieren. Die 27 EU-Regierungen müssen den Vorschlägen noch zustimmen, wahrscheinlich auf der Sondersitzung der EU-Energieminister am 26. Juli.

Gegen das Vorhaben regt sich jedoch bereits Widerstand von Ländern wie Polen, die eine von der EU vorgegebene Aktualisierung ihrer eigenen Notfallpläne nicht für notwendig erachten. Die polnischen Gasspeicher sind zu 98 Prozent gefüllt, nachdem Russland die Lieferungen an das Land bereits im April eingestellt hatte.

Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar lieferte Moskau 40 Prozent des Gases in die EU, aber seitdem sind die Gaslieferungen aus Russland nach Europa auf unter 30 Prozent des Durchschnittswerts für 2016-2021 gefallen. Die EU-Kommission schlägt unter anderem Auktionen zur Entschädigung von Firmen vor, die ihren Gasverbrauch senken und Gas anderen Unternehmen abgeben wollen sowie Begrenzungen der Heiz- und Kühltemperaturen in öffentlichen Gebäuden. Die Regierungen sollten auch entscheiden, in welcher Reihenfolge sie Industrien in einem Versorgungsnotstand zur Schließung zwingen würden. Bisher gelten private Haushalte nach den EU-Vorschriften als “geschützte Verbraucher” und würden von Beschränkungen bei einem Gasmangel als Letzte betroffen. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck hat die Bürger bereits um Gassparen aufgerufen.

(Reuters-Büros, geschrieben von Andreas Rinke, Elke Ahlswede. redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

tagreuters.com2022binary_LYNXMPEI6J0M1-VIEWIMAGE