– von Dmitry Antonov und Pavel Polityuk
Moskau/Kiew/Washington (Reuters) – Nach Anzeichen einer leichten Entspannung zu Wochenbeginn spitzt sich die Ukraine-Krise wieder zu.
US-Präsident Joe Biden sagte, die Gefahr eines russischen Einmarsches in der Ukraine sei “sehr hoch” und es sei sein Gefühl, dass dies in den nächsten Tagen geschehen werde. In der Ost-Ukraine kam es am Donnerstag nach Angaben beider Seiten zu Gefechten zwischen pro-russischen Rebellen und ukrainischen Regierungstruppen. Ein ranghoher ukrainischer Regierungsvertreter sagte, die jüngsten Beschüsse aus dem Gebiet der pro-russischen Separatisten passten nicht zu den üblichen Verletzungen der Waffenruhe. Es sehe vielmehr nach einer “Provokation” aus. Russland forderte unterdessen im Streit über Sicherheitsgarantien des Westens den Abzug aller US-Truppen aus Mittel- und Osteuropa. In einem beispiellosen Schritt wies die Regierung in Moskau zudem den stellvertretenden US-Botschafter aus Russland aus.
Der ukrainischen Regierung zufolge gab es Berichte, wonach auch ein Panzer aus dem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebiet im Osten gefeuert hat. “Diese Granaten kamen aus den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine, die von Russland kontrolliert werden”, sagte Außenminister Dmytro Kuleba in Kiew bei einer Pressekonferenz mit der britischen Ressortchefin Liz Truss. Russland werde versuchen, Situationen zu schaffen, um der Ukraine die Verantwortung zuzuschieben. Weiteren Angaben des Verteidigungsministerium in Kiew zufolge beendeten die Separatisten um 13.00 Uhr Ortszeit ihren Beschuss.
Die von Russland unterstützten Rebellen warfen ukrainischen Truppen vor, ihr Territorium angegriffen zu haben. Die Streitkräfte hätten bei vier Attacken in den vergangenen 24 Stunden Mörser, Granatwerfer und ein Maschinengewehr eingesetzt, erklärten Vertreter der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk. Ein Reuters-Fotograf in der Region Luhansk berichtete, es seien Artillerieschüsse aus der Richtung der Kontaktlinie zu hören. OSZE-Beobachter berichteten nach Angaben aus diplomatischen Kreisen von Artillerie-Beschuss in der Ost-Ukraine. Es war zunächst nicht möglich, unabhängig zu klären, ob es sich um eine Eskalation oder um Verstöße gegen die Waffenruhe handelte, wie sie in dem seit mehr als sieben Jahren andauernden Konflikt immer wieder auftreten.
USA: RUSSLAND STOCKT BLUTKONSERVEN AN GRENZE AUF
US-Präsident Joe Biden sagte in Washington, die Gefahr einer russischen Invasion in der Ukraine sei sehr groß. Alle Anzeichen sprächen dafür, “dass sie bereit sind, in die Ukraine zu gehen und die Ukraine anzugreifen”. Allerdings gebe es auch weiterhin die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung, betonte der US-Präsident. Deshalb habe er Außenminister Antony Blinken zu einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats über den Ukraine-Konflikt geschickt. Blinken wollte anschließend weiter nach Deutschland reisen, wo er an der Münchner Sicherheitskonferenz teilnehmen wollte.
Russland hat auf seinem Gebiet in der Nähe der Grenze zur Ukraine über 100.000 Soldaten zusammengezogen, bekräftigte aber, der Teilabzug nach Ende von Manövern habe bereits begonnen. Die USA, die EU und die Bundesregierung erklärten dagegen, sie sähen dafür keine Anzeichen. Vielmehr dauere der Truppenaufmarsch an, obwohl Russland das Gegenteil behaupte, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sieht Anzeichen für Vorbereitungen einer Invasion. Russland stocke die Blutkonserven für die in Grenznähe zusammengezogenen Truppen auf, die Einheiten würden näher an die Grenze gerückt und es seien mehr Kampfflugzeuge als üblich in der Luft. “Ich war selber Soldat vor gar nicht so langer Zeit. Ich weiß aus erster Hand, dass man diese Dinge nicht ohne Grund macht”, sagte der Ex-General. “Und man macht diese Dinge ganz gewiss nicht, wenn man sich bereit macht, um zusammenzupacken und nach Hause zu gehen.”
Den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze begründet Russland letztlich mit der Forderung nach Sicherheitsgarantien. Die USA haben der Regierung in Moskau dazu Angebote unterbreitet, auf die Russland am Donnerstag antwortete. Laut russischer Nachrichtenagentur RIA fordert die Regierung in Moskau, dass alle US-Truppen aus Mittel- und Osteuropa abgezogen werden. Zudem erwarte Russland konkrete Vorschläge dazu, dass sich das transatlantische Bündnis nicht weiter nach Osten ausdehne. Fragen der Rüstungskontrolle könnten nicht getrennt von anderen Punkten betrachtet werden.
Auf die Ausweisung ihres stellvertretenden Botschafters Bart Gorman aus Russland reagierte die US-Regierung empört. Die Entscheidung entbehre jeglicher Grundlage, erklärte das Außenministerium in Washington. “Wir erachten das als eskalierenden Schritt und wägen unsere Antwort ab.” Gorman habe ein gültiges Visum. Einen Grund für den Schritt nannte die russische Regierung zunächst nicht.